Zielvereinbarungen reloaded: Agilität und Kontext_#37
Angekommen ist die Erkenntnis überall: Menschen wie auch Organisationen brauchen Ziele. Ziele stiften Sinn, geben dem eigenen Tun Orientierung und (sollen) motivieren, durchaus mit finanziellen Konsequenzen („Zielerreichungsprämie“). Explizit oder implizit steht dahinter der vor vielen Jahren entwickelte Ansatz „Management by Objectives“, der sich so bündeln lässt: Vereinbare mit den Menschen relevante Ziele, deren Erreichen diese Menschen mit den ihnen bereitgestellten Ressourcen bewerkstelligen müssen. In aller Regel liegt ein Planungszeitraum von 12 Monaten zugrunde. Zum Jahresende wird bewertet, ob und in welchem Ausmaß die Ziele erreicht wurden. Doch manchmal ist das alles Makulatur, wie die Praxis zeigt.
Plötzlich werden unterjährig Ziele geändert, gestrichen oder zusätzlich aufgenommen, die den eigentlich festgelegten Zielkatalog gehörig durcheinander bringen. Das sorgt für Irritationen und stiftet zusätzlich Unzufriedenheit – denn ein prämienbewährtes Erreichen oder gar Übertreffen der vereinbarten, mit Kenngrößen hinterlegten Ziele ist meistens nicht mehr möglich.
2 Probleme der Zielvereinbarungskonzepte
In der Praxis beobachte ich 2 grundlegende Probleme, die bei den gängigen Prozeduren rund um Zielfestlegung und -vereinbarung in der Regel ausgeblendet sind:
- Die Unterstellung von Linearität und daraus folgend Prognostizierbarkeit
- Eine unzureichende Einbettung der Ziele in übergeordnete Kontexte.
Zu 1.: Unterstellung von Linearität und Prognostizierbarkeit
Noch in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts waren Planungszeiträume von 10 und mehr Jahren keine Seltenheit. Bei aller Varianz unter den Konzernen und Organisationen unterschied man die Kurzfristplanung, die Zeiträume zwischen 1-3 Jahren umfasste, von der Mittelfristplanung (zwischen 3-8 Jahren) und der Langfristplanung (8-15 Jahre). Diese Planungsperspektiven haben sich längst verschoben. Heutzutage reicht die Langfristplanung in kaum einem Unternehmen weiter als 6-8 Jahre und selbst die hier zusammengeführten Planungsgrößen (in der Regel Marktpositionen, Kenngrößen zur Unternehmensentwicklung sowie Finanzkennzahlen) gelten nicht als „hart“. Entsprechend haben sich die Planungshorizonte für die Mittel- und Kurzfristplanung reduziert.
Die Hauptursache dieser Veränderung liegt in der sprunghaft gestiegenen Veränderungsgeschwindigkeit. Dies gilt für die Märkte, aber auch für die Produktions- und Logistikbedingungen, wie sie sich als Konsequenz einer vernetzten Welt innerhalb kürzester Zeit entwickelt haben und ständig weiterentwickeln. Wenn sich aber herausstellt, dass ein erheblicher Aufwand getrieben wird, der sich doch nicht lohnt, hört auch der letzte Traditionalist irgendwann auf damit. Zwar gibt es weiterhin rollierende, also periodisch überprüfte und entsprechend anzupassende Mehrjahresplanungen, dies jedoch bei deutlich reduzierten Planungshorizonten.
Einzig am Jahresrhythmus der Zielvereinbarungen wird unverdrossen festgehalten. Und das, obwohl auch im Verlaufe eines Jahres immer wieder Ereignisse oder Entwicklungen eintreten, die sich sofort und unmittelbar auswirken. Beispiele:
- Der Börsenkurs bricht, aus welchen Gründen auch immer, gravierend ein. Das führt in aller Regel zu harten Kosteneinsparprogrammen, die schnell für drastische Kürzungen der längst bewilligten Budgets sorgen.
- Ein wichtiger Markt lässt aufgrund volkswirtschaftlicher, politischer oder anderer makrostruktureller Rahmenbedingungen, die so nicht vorhersehbar waren, nach. Kosteneinsparprogramme sind in aller Regel auch hier die Konsequenz.
- Kurzfristig wird ein neues Projekt aufgelegt, das erhebliche Kapazitäten bindet. Dadurch wird ein Teil der festgelegten Ziele über kurz oder lang herunterpriorisiert. Wenn es unfair zugeht, passiert nicht einmal das und man wird weiterhin an der Zielerreichung für etwas gemessen, das so nicht mehr gelten kann. Jedenfalls rückt mit dem neuen Projekt ein Thema in den Mittelpunkt, das nahezu voller Aufmerksamkeit bedarf.
Die Liste lässt sich beliebig verlängern. Am Ende läuft es darauf hinaus, dass heutzutage selbst für einen Planungszeitraum von gerade mal einem Jahr kaum noch stabile Rahmenbedingungen angesetzt werden können. Die Prämisse, dass sich die Dinge kontinuierlich und in gleichförmigen Schritten entwickeln wie bisher, dass also die Zukunft als lineare Fortschreibung der Vergangenheit und Gegenwart zu prognostizieren ist, muss aufgegeben werden.
Was ich vorschlage:
Es sollte allerorten zumindest halbjährliche Ziele-Reviews geben. Hier wird nicht nur geprüft, wie es um den Stand der Zielerreichung steht, hier gilt es auch festzustellen, ob die Ziele überhaupt noch gelten können. Prüffragen könnten beispielsweise sein:
- Hat das jeweilige Ziel noch dieselbe Relevanz wie zum Zeitpunkt seiner Festlegung?
- Stehen weiterhin die Ressourcen zur Verfügung, die bei der ursprünglichen Zielvereinbarung angesetzt wurden?
- Besteht Änderungs-/ Umpriorisierungsbedarf aufgrund unvorhergesehener Entwicklungen?
Entweder ergänzend zu einem festen (halbjährlichen) Review-Turnus oder anstelle eines solchen ist es vorstellbar, dass eine der beiden betroffenen Seiten (also Zielegeber = Unternehmen bzw. vorgesetzte Instanz; Zielenehmer = zugeordnete Führungskraft/ zugeordneter Mitarbeiter) die grundsätzliche Möglichkeit hat, aufgrund sich abzeichnender Risiken für die Zielerreichung ein solches Review einzuberufen. Damit gewönne das Instrument der Zielvereinbarung an Agilität – und es bliebe fair.
Zu 2.: Unzureichende Einbettung der Ziele in übergeordnete Kontexte
Ziele lassen sich hierarchisch ordnen, indem sie einem übergeordneten Ziel (also nach „oben“) ebenso wie einem oder mehreren nachgeordneten Zielen (nach „unten“) zuordenbar sind. Das weiß doch jeder? Mag sein, aber dennoch beobachte ich, dass zwar eine Zielableitung „nach unten“ erfolgt, wenn zum betreffenden Einzelziel Maßnahmen und Meilensteine erarbeitet werden; nicht durchgängig treffe ich eine Einbettung der Ziele in übergeordnete Ziele bzw. Kontexte an. Der Einfachheit halber und zur besseren Differenzierung möchte ich übergeordnete Ziele als „Zwecke“ bezeichnen.* So verstanden sind Zwecke in der Regel bereits mit der prinzipiellen Unternehmensvision bzw. dem Leitbild verknüpft. Diese stellen für jede Planung, ob lang-, mittel- oder kurzfristig, ob hoch dynamisiert oder nicht, so etwas wie die Bezugsbasis dar. Einige Praxisbeispiele für Leitsätze sind:
- „Wir bewahren unsere unternehmerische Eigenständigkeit“
- „Unser Service ist Benchmark für die gesamte Branche“
- „Wir sind Innovationsführer in unseren Märkten“.
Es liegt auf der Hand, dass die Jahresziele direkt oder indirekt zu solchen übergeordneten Zwecken beitragen (müssen). Aber das ist es, was ich mancherorts als Desiderat antreffe: Ziele werden eben nicht ausdrücklich mit übergeordneten Zwecken verknüpft. Doch gerade das ist in volatilen Zeiten sehr hilfreich, um die Orientierung zu behalten. Motto: Wenn sich das Ziel ändert, dann lass uns prüfen, ob wir weiterhin in Richtung unserer Vision unterwegs sind bzw. welche Leitsätze/ Prinzipien nunmehr nicht mehr unmittelbar verfolgt werden.
Dazu mein Vorschlag:
- Denken Sie Ziele stets in beide Richtungen: nach unten wie nach oben.
- Fragen Sie also, mit welchen Teilzielen und Maßnahmen sich das Ziel erreichen lässt und zu welchen Meilensteinen der Status anhand welcher Kenngrößen überprüft werden kann.
- Fragen Sie aber auch „nach oben“: „Wenn wir dieses Ziel erreicht haben, zu welchem Zweck trägt das bei?“ Geht man dieser Frage ernsthaft nach, kann man durchaus Überraschungen erleben. Beispielsweise stellt sich nicht selten heraus, dass es für ein Ziel gar keinen Bezugspunkt in der Unternehmensvision gibt. Oder man bemerkt, dass für ein oder sogar mehrere Unternehmensprinzipien gar kein Ziel vereinbart wurde.
Fazit: auch weiterhin Optimierungspotential
Wie so oft hat sich auch zum Thema Ziele, Zielvereinbarungen und Co. längst ein ganzer Wald an Tools, Methoden, Sichtweisen und Beratungsansätzen entwickelt. Prozeduren und Formeln für geeignete Jahreszielvereinbarungen, Leitfäden für Ziele-Reviews wie IT-basierte Systeme zum Ziele-Tracking sind allerorten etabliert. Doch vielerorts besteht Optimierungspotential, das an 2 Termini festgemacht werden kann: Agilität und Kontextualisierung.
* Hinweis: Mit Fokus auf zwischenmenschliche Kommunikation habe ich mich in einem früheren Blogbeitrag zur Unterscheidung von Zielen und Zwecken geäußert. In dem Beitrag „Zweimal blinder Fleck: Kommunikationsmanagement in der Praxis /#2“ unterscheide ich Kommunikationsziele („was soll in der Kommunikation erreicht werden?“) von Kommunikationszwecken („was soll durch die Kommunikation erreicht werden?“). Zum Blogpost hier lang.
2 Kommentare
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Lieber Herr Dr. Wolf,
vielen Dank für Ihren Beitrag – wie immer in Ihrem Blog voll Ihrer umfassenden Erfahrungen und weiterführenden, impulsvollen Gedanken.
Gern möchte ich noch einen Aspekt zur Fragwürdigkeit von vorgegebenen Zielen hinzufügen neben den von Ihnen genannten: Mir gegebene Ziele lenken mich von meiner intrinsischen Motivation ab und engen meine Fähigkeit ein, offen für neue Möglichkeiten zu sein.
Problematisch ist das nicht nur für mich, sondern auch für das mich beschäftigende Unternehmen, bspw. wenn Budgets aus Gründen der Ziel(nicht)erreichung ohne Grund ausgeschöpft werden oder wenn ich versuche, die Ziele nicht zu übertreffen, um die Zielvorgaben fürs nächste Jahr nicht übermäßig zu erschweren.
Stimmt das mit Ihren Erfahrungen überein?
Für mich sind Ziele wie Landkarten, die mich in eine mögliche Zukunft führen. Aber eben nur eine einzige Zukunft. Sie werden unpassend, wenn ich an meinem Weg anhafte, obwohl sich die Umstände verändert haben oder sich ein neuer, hoffnungsvoller Weg zeigt. Deswegen versuche ich bei mir selbst gestellten Zielvorgaben (ich bin wie Sie selbständig bzw. hänge an Unternehmen, die „evolutionäre“ Praktiken wie Selbstführung in den Vordergrund stellen) mich nicht zu eng auf Ziele zu fokussieren, um offen für Unerwartetes und Neues zu sein.
Das waren meine ersten Gedanken beim Lesen Ihres neuen Posts – ganz ungefiltert.
Herzliche Grüße
Ihr
Christian Kemper
PS: „Herunterpriorisieren“ ist ein schönes, für mich neues Wort, danke auch dafür – ein Alogismus, gar ein Oxymoron? Verzeihung, habe heute den ganzen Tag einhundertfünfzig Lehrer_innen begleitet 😉
Verehrter Herr Dr. Kemper,
besten Dank für die interessanten und weiterführenden Gedanken. Die eine oder andere Überlegung meinerseits:
Dass mit vorgegebenen Zielen intrinsische Motivation beeinträchtigt wird, ist nicht nur denkbar, sondern fraglos eine anzutreffende Tatsache. Dabei besteht jedoch für ein Unternehmen das Dilemma, dass es nachgerade gezwungen ist, Ziele zu definieren und auch zu veröffentlichen. Das gilt insbesondere für börsennotierte Unternehmen. Wenn aber Unternehmensziele zu definieren und zu kommunizieren sind, dann führt kein Weg daran vorbei, diese Ziele auch innerhalb der Organisation zu verankern. Anderenfalls hätten sie kaum eine Chance auf Verwirklichung. Dass solche Ziele mit der intrinsischen Motivation eines jeden Mitarbeiters zum fraglichen Zeitpunkt kongruent sind („toll, genau das wollte ich auch erreichen“), ist kaum denkbar. Zumal ganz grundsätzlich zu fragen wäre, wie intrinsisch Motivation überhaupt sein kann (wenn wir mal die fensterlose Monade Leibniz’scher Prägung aus der Diskussion lassen). Aus diesem Dilemma führt kein perfekter Weg – es sei denn, man bindet die Mitarbeiter in die Zieldefinition ein, beginnend bei den Unternehmenszielen. Dabei, so meine und hoffe ich, können meine hier geäußerten Vorschläge hilfreich sein. Das Moment der Agilität dürfte in etwa dem entsprechen, das Sie u.a. mit „offen für Unerwartetes und Neues“ umschreiben.
Das angesprochene Phänomen, dass Menschen ihre Ziele auf spezifische Weise bewirtschaften, kann ich ebenfalls bestätigen. Auch hier zeigt sich die dunkle Seite der Profitcenter-Idee, die zu Teiloptimierungen führt, welche in Summe auf Kosten des Gesamtsystems gehen. Das aber verdient eine gründlichere Diskussion.
Und schließlich noch ein bisschen Wörterkunst: Nachdem ich die beiden Termini soeben nachgesehen habe, möchte ich hiermit eine doppelte Zurückweisung für die Attribute „Alogismus“ wie auch „Oxymoron“ beantragen. „Herunterpriorisieren“ ist ein Ausdruck, dem ich immer wieder begegne (meinerseits also keineswegs er-funden, sondern lediglich ge-funden) und der im pragmatischen Kommunikationsverkehr den Umstand zu bewältigen sucht, dass es kein richtig passendes Antonym für „Priorisieren“ gibt.
Herzliche Grüße!