Mythos und Management /#29

von | 15/12/2014 | 0 Kommentare

Zur unterschätzten Bedeutung von Glaubenssätzen

Womöglich ist es die nahende Weihnachtszeit, die mich mal wieder sensibilisiert. Jedenfalls fiel mir in den letzten Wochen mehrfach auf, in welchem Ausmaß die scheinbar so rationalen, emotionslosen und einzig an den Zielen ausgerichteten Entscheidungsprozesse auf Glaubenssätzen beruhen. Was ich unter „Glaubens­sätzen“ verstehe? Auf den Punkt gebracht handelt es sich um grundlegende, unerschütterliche Annahmen, die auf persönlichen Überzeugungen, nicht jedoch auf belegbaren Fakten beruhen. Nochmals verkürzt: Glaubenssätze sind Mythen. Und ob Sie es glauben oder nicht: Mythen sind immer im Spiel.

Ein konstruiertes, jedoch auf einem erlebten Fall beruhendes Beispiel: Das Managementboard eines großen Mittelständlers, tätig im Konsumgüterbereich (hochwertige Wohnaccessoires, Designobjekte, Kunstgewerbe), diskutiert den Vorschlag zu einer neuen Vertriebsstrategie. Diese sieht vor, dass verstärkt über das Internet und nicht mehr primär über den stationären Handel verkauft wird. Es kommt zu diesen Äußerungen:

Vertriebsleiter: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Das Internet ist für jedes Unternehmen zum wichtigsten Vertriebskanal geworden und das wird auch bei uns so sein. Derzeit verschaffen sich Kunden über unsere Homepage einen Überblick über unsere Produkte, aber können nicht direkt bei uns bestellen. Wir haben über herausgefunden, dass sie dann über online-Händler bestellen.“

Geschäftsführer: „Aber dann können unsere Kunden doch über das Internet bestellen, auch wenn sie es bekanntermaßen kaum tun. Dieses Unternehmen existiert seit mehr als 100 Jahren. Unsere Tradition und unser Erfolg basieren darauf, dass wir eng und vertrauensvoll mit dem Handel zusammenarbeiten. Durch das Internetabenteuer verlieren wir viel, aber es ist vollkommen unklar, was wir gewinnen. Mein Gefühl sagt mir, dass wir bei unserer bisherigen Vertriebsstrategie bleiben sollten.“

Resultat: Die Entscheidung wurde zurückgestellt.

Glaubenssätze bei der Arbeit: Mythen regieren

Der Geschäftsführer argumentiert im Wesentlichen mit Bezug auf Erfolge der Vergangenheit. Mindestens 2 Glaubenssätze verbergen sich dahinter:

  • Zukunft lässt sich als lineare Fortsetzung der Vergangenheit vorhersagen.
  • Gefühle sind geeignete Ratgeber.

Auch dem Vertriebsleiter lassen sich Glaubenssätze zuweisen:

  • Man muss mit der Zeit gehen.

Auch wenn eine solche Annahme unmittelbar einleuchtet – es ist keineswegs gesagt, dass sie immer zutrifft und dass sie als zentrales Argument die Veränderung der Vertriebsstrategie rechtfertigt. Das fragliche Sortiment besteht primär aus beratungsintensiven, überwiegend über die unmittelbare Haptik überzeugenden Produkten. Ob diese wirklich erfolgreich über das Internet verkäuflich sind? Das Risiko, auf einen vergleichsweise gering dimensionierten Vertriebskanal zu setzen und dadurch den wesentlichen Partner, also den stationären Handel, zu verlieren, ist (noch) nicht zurückzuweisen. Der Glaubenssatz des Vertriebsleiters könnte in etwa so formuliert werden:

  • Nur wer das Internet als Vertriebskanal nutzt, kann künftig Erfolg haben.

Dazu mag man stehen, wie man will. Nicht wenige von Ihnen denken vermutlich, dass der Vertriebsleiter richtig liege; die Gegenposition mutet doch allzu sehr wie eine ewiggestrige Anti-Fortschrittshaltung an. Aber sind dann nicht bereits auch bei uns Glaubenssätze am Werk? Die sich beispielsweise so formulieren ließen:

  • Wenn alle Welt das Internet als entscheidenden Vertriebskanal der Zukunft sieht, dann muss das stimmen.

Ich stelle mir eine Diskussion dazu vor und höre den zweifelnden Satz: „Wie kann man die Gewissheit, dass das Internet alle Geschäfts- und Vertriebsmodelle verändert, als Glaubenssatz bzw. als Mythos bezeichnen? Das ist doch eine Tatsache!“ Womöglich weist man auf  Probleme hin, die jene haben, welche zu spät auf das Internet als Vertriebskanal setzten. Prominentes Beispiel aus jüngerer Zeit sind Mediamarkt und Saturn, die viel zu lange auf den stationären Handel gesetzt und das Internet unterschätzt haben. Nun blickt man dort mit Tränen in den Augen auf Amazon und Co.

Doch etwas ist nicht allein deshalb zutreffend, weil es alle sagen. Und das Beispiel der beiden Elektro- und Elektronikhändler passt nicht ohne weiteres auf jede andere Branche, denn die dort angebotenen Produkte gehören zu Marken, die in der Tat über zahllose online-Anbieter erhältlich sind. Produkte, die eher singulär stehen und immer auch über den sinnlichen Kontakt verkauft werden (indem der potentielle Käufer sie anfassen, hochheben, ins Licht halten kann), werden in der Regel nicht primär über die Markenzugehörigkeit vertrieben. Zu dieser Art von Produkten gehören jene Wohnaccessoires aus dem eingangs vorgestellten Beispiel.

Fakt versus Mythos – längst entschieden?

Jeder halbwegs vernünftige Mensch würde vertreten, dass gerade wichtige Entscheidungen auf Basis von Fakten und Erkenntnissen, nicht jedoch auf Basis von Mythen zu treffen sind. Doch dem ist eine empirische Tatsache entgegenzuhalten: Wenn es immer so klar und eindeutig wäre, dass sich Entscheidungen ohne irgendeine Einschränkung aus Fakten ableiten ließen, dann sind zahlreiche Fehlentscheidungen nicht mehr zu erklären. Allerorten werden Marktstudien unternommen oder Kennzahlen ausgewertet, erst recht dann, wenn es um einen Strategiewechsel, also um etwas Gravierendes geht. Benchmark-Studien, Befragungen und andere empirische Erhebungen liegen vor. Die getroffenen Entscheidungen sind also auf den ersten Blick wohlbegründet, basieren auf Fakten und erscheinen als alternativlos (einmal wollte ich dieses furchtbare Wort auch verwenden). Und dann geht es eben doch schief…

Denn Marktstudien, Kennzahlen und Co. packen Vergangenheit in Zahlen. Wer aber sagt, dass – siehe den ersten Glaubenssatz  – auch noch so geschickt aufbereitete Vergangenheit verlässliche Prognosen zuließe? Mein persönlicher Glaubenssatz zu dieser Perspektive:

  • Marktstudien und Kennzahlen exorzieren Unsicherheit und Angst, liefern aber nicht zwangsläufig verlässliche Zukunftsprognosen.

Was jetzt? Habe ich mich damit vollständig auf die dunkle Seite der Weltanschauungen begeben, dorthin, wo gependelt wird, wo Karten gelegt werden, wo Schamanismus als plausible Quelle dient?

Vorschlag: Mythen anerkennen und damit aus dem Verborgenen holen

Keineswegs vertrete ich die Auffassung, dass Marktstudien, Kennzahlen oder Benchmarking-Studien sinnlos seien. Im Gegenteil, sie taugen sehr wohl, um zumindest eine Vorstellung der Konsequenzen einer zu treffenden Entscheidungen einzuschätzen. Es wäre jedoch töricht, diesen Fakten eine gleichsam naturgesetzliche Prognosequalität zuzusprechen. Deshalb lautet mein Vorschlag, die hinter den Fakten liegenden Glaubenssätze bzw. Mythen zu erkennen – anzuerkennen und diskutabel zu machen. Dann kann es gelingen, eine allzu einseitige, vermeintlich zwangsläufige Entscheidung zu vermeiden.

Es lassen sich interessante Erfahrungen machen, wenn man versucht, auf die Existenz  und Wirksamkeit von Glaubenssätzen hinzuweisen. Oftmals reichen die Reaktionen von Irritation bis hin zu aggressiver Zurückweisung. „Wollen Sie damit sagen, dass wir hier reine Spinner sind?“ Nein, das will ich nicht sagen. Ich will im Gegenteil, dass einem realen Sachverhalt Aufmerksamkeit geschenkt wird, der ausgesprochen praktische Konsequenzen hat: Dass nämlich unsere Ansichten von Glaubenssätzen durchsetzt sind, die insbesondere dann problematisch werden, wenn man sie negiert.

Anders herum halte ich es für grotesk, Entscheidungen ausschließlich auf Basis von Glaubenssätzen oder gar (noch schlimmer, weil seinen mythischen Charakter maskierend) des berühmt-berüchtigten „gesunden Menschenverstands“ zu treffen. Aber die Auseinandersetzung mit diesem Mythos verdient einen eigenen Blogbeitrag.

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