Leben retten durch Zoobesuch /#15
Wie ein Kontextwechsel die Säuglingssterblichkeit dramatisch reduzieren konnte
In den späten 1870er Jahren nahm sich der Arzt Stephane Tarnier einen Tag frei. Statt in das Geburtskrankenhaus für mittellose Frauen in Paris, die Maternité de Paris, ging er in den Zoo. Zufällig entdeckte Tarnier zwischen Elefanten- und Reptiliengehege einen Brutkasten für Hühnereier. Er blieb stehen und schaute zu, wie die frisch geschlüpften Küken im warmen Brutkasten umhertapsten. Und da kam ihm die Idee.
Der Gynäkologe beauftragte die für die Küken zuständige Tierpflegerin Odile Martin damit, einen Brutkasten für Menschenbabys zu bauen. Beheizt wurde der hölzerne Brutkasten durch heißes Wasser, in Flaschen gefüllt und unter dem Boden angebracht. Tarnier setzte das Gerät erfolgreich ein – und war so schlau, eine Studie mit 500 Babys durchzuführen und sorgfältig zu dokumentieren. So konnte er nicht nur das Leben von vielen frühgeborenen Säuglingen retten, sondern nachweisen, dass er die Sterblichkeitsrate der untergewichtigen Babys von 66% auf nur noch 38% gesenkt hatte. Das gab den Ausschlag dafür, dass schon bald auf behördliche Anweisung in jeder Pariser Geburtsklinik ein Inkubator installiert werden musste. Um die Jahrhundertwende wurde der Säuglings-Brutkasten, seit Tarnier technisch mehrfach verbessert, auch international bekannt. Heutzutage ist der Brutkasten aus keiner Entbindungsstation mehr wegzudenken.
Kreation, Kombination und förderliche Umgebungen
Die Geschichte des Brutkastens erzähle ich in Anlehnung an das Buch von Stephen Johnson „Wo gute Ideen herkommen. Eine kurze Geschichte der Innovation“, auf Deutsch 2013 im scoventa-Verlag erschienen (die Passage zu Tarnier findet sich auf S. 35ff.). Ich halte sie für ein großartiges Beispiel dafür, wie etwas Neues in die Welt kommt. Denn keineswegs war der Brutkasten Resultat einer genialen Idee wie aus dem Nichts, spontan hervorgebracht von einem brillanten Geist in einem einzigartigen „Heureka-Moment“. Wir alle neigen dazu, bahnbrechende Innovationen auf den Genius einzelner Personen zurückzuführen. Doch das sieht Johnson ganz anders: „Ideen sind wie Basteleien, zusammengebaut aus (…) angestaubten Überresten des schon immer Dagewesenen.“ (a.a.O., S. 39). Menschen greifen etwas auf, verbinden Dinge, verschieben ihre Anwendung in andere Zusammenhänge und gelangen auf diese Weise zu einer neuen Idee. Mithin ist Kreation vor allem – Kombination. Dass es immer noch individueller Geistestätigkeit bedarf, ist damit nicht in Abrede gestellt. Deutlich wird jedoch, dass die individuelle Geistestätigkeit förderlicher Umgebungsbedingungen bedarf.
In Johnsons Buch finden sich zahlreiche Beispiele aus der Biologie, aus der Technik, dem Internet wie auch aus der Evolution dafür, wie bei förderlichen Umgebungsbedingungen – Johnson spricht auch von „Innovationsräumen“ – neue Lösungen unter Verwendung vorhandener Bausteine entstehen können. Es ist interessant, welche Parallelen zwischen einem Korallenriff, einer Großstadt und dem Internet bestehen.
Ich möchte mich hier auf einen Aspekt konzentrieren, der nicht nur für Innovationen, sondern auch für umfassend angelegte Change-Vorhaben äußerst hilfreich ist: Mir geht es um bewusst eingesetzten Kontextwechsel, der neue Räume schaffen kann.
Kontext …
Unter „Kontext“ verstehe ich in diesem Zusammenhang die für eine Person wirksamen raum-zeitlichen, materiellen, immateriellen, sozio-kulturellen sowie technischen Rahmenbedingungen in einem weiten Sinn. Wenn eine Spezialistin für Klebetechnik beispielsweise in der Designabteilung eines Unternehmens arbeitend als Teil eines Projektteams damit befasst wäre, neue Werkstoffverbindungen für eine Kundenanwendung zu entwickeln, dann könnte der zutreffende Kontext so umrissen werden:
- Die Spezialistin arbeitet in einem Unternehmen, das im Wirtschaftssystem unserer westlichen Kultur verortet ist.
- Der Kunde hat einen bestimmten Anwendungsfall, für den er mehrere Anbieter um Lösungsvorschläge gebeten hat.
- Ihre Kolleginnen und Kollegen sind ebenso wie sie selbst auf spezifische Weise ausgebildet und haben einen bestimmten kulturellen Hintergrund.
- Dem Projektteam stehen bestimmte Geräte, Werkstoffe und Materialien, Umgebungsbedingungen (Temperatur, Luftdruck…) zur Verfügung.
- Wirksam sind außerdem finanzielle, technische und zeitliche Vorgaben, denn das Entwicklungsbudget ist nicht unbegrenzt. Die Lösung muss zu wettbewerbsfähigen Kosten realisierbar sein, sie muss die unternehmenseigenen Ergebniserwartungen treffen – und sie muss bald vorliegen.
An dieser Stelle breche ich die exemplarische (und konstruierte) Aufzählung ab. Vielleicht überlegen Sie einmal, wie die Beschreibung Ihres eigenen beruflichen Kontextes ausfiele? Zuweilen kommt es zu überraschenden Entdeckungen, wenn man eine abstrahierende Sicht auf das eigene Tun innerhalb der rahmenden Bedingungen richtet. Denn schon der distanzierende Blick schafft einen neuen Kontext – in diesem Fall: einen neuen Wahrnehmungskontext.
… und Kontextwechsel
Es ist eine nicht hintergehbare Selbstverständlichkeit, dass wir unsere Aufgaben in dem Kontext wahrnehmen, den unsere Organisation (unser jeweiliges Unternehmen) darstellt. Das gilt für jede Tätigkeit, ob sie nun aus Routinetätigkeiten in Produktion, Marketing, Vertrieb, Verwaltung etc. besteht oder ob sie in irgendeiner Weise von Routinen abweicht. Die wirtschaftliche, aber auch strukturelle Stabilität der Organisation liefern überhaupt erst die Bedingungen dafür, dass wir über Veränderungen, über Weiterentwicklungen und Innovationen nachdenken können. (Übrigens gilt auch andersherum: Veränderungen, Weiterentwicklungen und Innovationen schaffen erst die Bedingungen dafür, dass eine Organisation auch in Zukunft wirtschaftlich wie strukturell stabil bleibt).
Was aber passiert, wenn wir nicht weiterkommen? Wenn wir uns im Kreis drehen? Uns die Ideen ausgehen und wir immer wieder bei denselben Antworten landen? Manchmal braucht es einen Anstoß aus anderen Zusammenhängen, der ein neues Licht auf die Fragestellung wirft. Ich nutze ein Bild von Steven Johnson: Eine neue Tür lässt sich recht gut durch Kontextwechsel öffnen.
Gerade dies lässt sich dem obigen Beispiel entnehmen, in dem es um die Erfindung des Brutkastens ging: Durch Aufsuchen einer anderen Umgebung, aber natürlich auch durch ein suchendes, aufmerksames Interesse an den beobachtbaren Dingen in dieser ungewohnten Umgebung öffnen sich plötzlich neue Perspektiven.
Wo bitte geht’s zum neuen Kontext?
Ich vermute, dass die meisten Menschen nach einigem Nachdenken Situationen aus persönlicher Erfahrung beizusteuern wüssten, in denen plötzlich eine Idee aufgrund anderer Kontexte entstand. Beispiele für Kontextwechsel, die mir selber geholfen haben, bislang ungelöste Fragestellungen unerwartet zu beantworten:
- Aufenthalte in der Natur, z.B. wandern, joggen oder Mountainbiken
- Besuche von Museen, Theater- und Tanzaufführungen, Konzerten etc.
- durchaus auch dann, wenn ich spontan vielleicht gar nicht unmittelbar interessiert bin, weil ich das Stück, das Genre oder die dargebotene Kunst bislang nicht kannte
- die wirklich intensive Beschäftigung mit ungewohnten Objekten, Verhaltensweisen
oder Tätigkeiten- die handwerklichen Tätigkeiten tradierter Zünfte;
- technische Anlagen und ihre Funktionsweise (auch wenn ich nicht viel von Technik verstehe) oder die Maserung einer Baumrinde (für mein botanisches Wissen gelten ebenfalls enge Grenzen);
- das Verhalten von Pflanzen bei starkem Wind, die Bewegungsmuster von Tierschwärmen, die Auswirkungen von Auswirkungen mechanischer Einflüsse > sehr unterhaltsame Beispiele sind die sogenannten „Rube-Goldberg-Machines“, in denen eine vergleichsweise einfache Aufgabe auf möglichst umständliche Weise gelöst wird; ein Beispiel findet sich hier: http://www.youtube.com/watch?v=6-TG6SNNL6I.
Mehr vom Selben: Wer sich um sich selbst dreht, kommt nicht voran
Wenn uns wirklich etwas beschäftigt, bei dem wir nicht vorankommen, dann tragen wir die zu lösende Frage mit uns herum. Zeitweise denken wir gar nicht besonders konzentriert daran. Dann sehen wir etwas (für uns) Neues und es ist, als öffnete sich eine Tür. So in etwa dürfte es Tarnier ergangen sein, als er über die Reduzierung der hohen Säuglingssterblichkeit nachdachte und in den Zoo ging. Kontextwechsel helfen uns, Zusammenhänge zu entdecken, Parallelen zu ziehen, Prinzipien nachzuvollziehen und Assoziationen auf die eigentliche Fragestellung zu transferieren.
Wenig halte ich übrigens davon, sich unbedacht auf die verbreitete Amazon-Logik zu beschränken. Gemeint ist der Algorithmus, der uns mit Empfehlungen versorgt, die auf unseren statistisch ermittelten Vorlieben beruhen. Motto: Wer gestern in den letzten 3 Wochen Spionagethriller gesucht (und gekauft) hat, der sucht sicherlich auch heute einen Spionagethriller – fertig. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass ich lediglich mehr vom Selben erhalte. Erhebliche Kreativitäts- bzw. Innovationspotentiale blieben unerschlossen, würden wir uns das befruchtende Stöbern, neugierige Suchen und aufmerksame Betrachten nehmen lassen.
Es lohnt sich, andere Kontexte aufzusuchen, wenn man neue und wirklich innovative Lösungen sucht. In einer Haltung der Offenheit und der Bereitschaft, sich überraschen zu lassen, ist es ganz einfach bereichernd, die gewohnten Umgebungsbedingungen zu verlassen. Und das kann vielfältige Gestalt annehmen: andere Orte aufsuchen, neue Eindrücke zulassen, eigene Vorlieben zurückstellen, neugierig sein. Und womöglich mal wieder in den Zoo gehen.
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Zu diesem Thema habe ich auch gerade ein sehr inspirierendes Buch entdeckt:
Change Your Mind: 57 Ways to Unlock Your Creative Self
siehe hier: http://is.gd/mEz8GO
Auch hier geht es an ganz vielen Stellen darum, anders zu gucken, zu denken, sich zu verhalten, und die eigene Überraschung und Irritation für neue Einsichten und Ansichten zu nutzen.
Klingt interessant, vielen Dank.