Grenzen_#39

von | 16/10/2015 | 0 Kommentare

 

„Grenzen“: In vielen Organisationen ist der Ausdruck eher negativ belegt. „Wir müssen unsere selbst gesetzten Grenzen überwinden!“, ruft es aus dem Vorstand, gepolt auf Gewinnsteigerung und Wachstum. Vermutlich müsste man ziemlich lange warten, bevor eine „Grenze“ als positive Gegebenheit betont wird, z.B. so: „Gut, dass wir an diese Grenze gestoßen sind. Das hilft uns sehr.“ Grenze ist unsexy! Umso interessanter ist jedoch, dass gerade in organisationsinternen Kontexten sehr wohl auf Existenz und Einhaltung von Grenzen bestanden wird. Und zwar insbesondere dann, wenn es um die Absicherung der eigenen Zuständigkeiten geht. Deshalb 3 Thesen zur Funktion der „Grenze“.

These 1: Grenzen sichern Status und Prestige.

Um was geht es hier eigentlich? Diese Frage drängt sich auf, wenn man an Meetings teilnimmt. Bei jeder Gelegenheit wird mit ausgeprägter Heftigkeit darüber gestritten, wer was hätte tun müssen oder gerade nicht erledigen dürfen. In der Regel taucht früher oder später das Argument auf: „Das ist unsere und nicht Ihre Zuständigkeit.“ Oder anders herum, wie es gerade kommt. Derlei Zuständigkeitskonflikte bringen zutage, was allzu häufig unscharf und auslegbar, jedoch für die Akteure von erheblicher Bedeutung ist: Grenzen.

Grenzen markieren Verantwortungsbereiche, wobei ich einräumen will, dass Zuständigkeits- und Verantwortungsbereiche nicht identisch sein müssen (manchmal ist jemand für eine Teilaufgabe zuständig, jedoch nicht für das Gesamtresultat verantwortlich, zu dem er beisteuert). Doch solch feine Unterschiede kennt der permanent stattfindende Struggle for Life nicht, in dem die Reviere täglich auf’s Neue abgesteckt werden. Vertrieb gegen Marketing, Einkauf gegen Logistik, Produktion gegen Entwicklung: Gerade die Schnittstellen (zuweilen auch etwas beschönigend als „Nahtstellen“ bezeichnet), also die Übergabepunkte für Verantwortung und Zuständigkeit, werden zu Kriegsschauplätzen.

Warum das so ist? Ein langes Beraterlebens ließ mich oft beobachten, dass innerhalb einer Organisation eine nicht endende Auseinandersetzung um Rang und Status stattfindet. Das einmal Errungene gilt es zu verteidigen oder gar zu verbessern. Persönliche Eitelkeit tut ein Übriges, gehen doch Prestige und Privilegien mit dem Status einher. Hochrangigen Hierarchen stehen reservierte Parkplätze zur Verfügung, sie verfügen über Assistenzpersonal und haben die besseren Räumlichkeiten. All das steht auf dem Spiel, sobald sich (vermeintliche) Konkurrenz auf das (vermeintlich) eigene Territorium wagt. Dass das sehr ermüdend ist und Grenzkonflikte überwiegend nicht dem Gesamtinteresse der Organisation dienen, liegt auf der Hand. Doch solange die implizit oder sogar explizit vorherrschende Auffassung lautet, dass die Bedeutung einer Person primär am quantitativen wie qualitativen Umfang ihres Verantwortungsbereichs bemessen wird, wird Grenzsicherung manchem zur bitteren Notwendigkeit: Wer will zurückstecken, wenn es an die Budgets oder gar Tantiemen geht?

These 2: Grenzen stiften Identität und Sinn.

Zuweilen kommt die Idee auf, die intraorganisatorischen Grenzen einfach abzuschaffen. Dass sich nämlich gerade in Führungskreisen ermüdende Grenzkonflikte abspielen, bleibt niemandem verborgen – auch denen nicht, die permanent kämpfen. „Was bliebe uns erspart, wenn wir diese Diskussionen einfach bleiben ließen“, seufzt es nach der mal wieder ausgesprochen hitzig verlaufenen Bereichsleiterrunde.

Übersehen wird dabei, dass Grenzen immer auch eine stabilisierende Wirkung haben. Sie stiften Identität, denn sie markieren Zugehörigkeit. Die „Anderen“ gehören nicht dazu – selbst dann nicht, wenn sie im selben Unternehmen arbeiten. Wie oft hört man in der Praxis Aussagen wie diese: „Wir in der Produktion tragen die Wertschöpfung“; „Ohne uns im Vertrieb bleibt das Unternehmen auf seinen Produkten sitzen“; „Nur wenn wir als Logistikteam funktionieren, erhalten unsere Kunden die bestellte Ware“; oder auch: „Am Ende zählt, was rein kommt. Und dass die Kunden ihre Rechnungen bezahlen, dafür sorgen wir im Rechnungs- und Mahnwesen.“

Und so produzieren Grenzen immer auch Sinn: Sinn für das eigene Tun. Grenzen reduzieren Komplexität und erlauben es den handelnden Menschen, ihr Handeln einem größeren und doch (noch) überschaubaren Bereich zuzuordnen. Dieser Orientierungsbedarf steigt mit der Größe und Diversifizierung der Organisation. Gerade in sehr komplexen, womöglich global aufgestellten Unternehmen und Konzernen lässt sich die gemeinsame Ausrichtung nur noch auf einer abstrakten Ebene formulieren. Dann sind zuerst der eigene Bereich, die Fabrikhalle, die Büroetage oder der lokale Standort die Referenz und nicht der in einer fernen Zentrale verortete Konzern. Die Territorialität, die bei dem Ausdruck „Grenze“ mitschwingt, dürfte dabei durchaus die Sinnstiftung und persönliche Orientierung unterstützen. Wie ohnehin unser Denken über Organisationen durchsetzt ist von räumlichen Vorstellungen und Ordnungsschemata. Aber das ist vielleicht eher ein Kandidat für einen separaten Blogpost.

These 3: Grenzen produzieren Energie und Initiative.

Schließlich ist jedoch einzuräumen, dass die Einpeitscherreden in Sachen Grenzüberwindung auch deshalb funktionieren, weil Grenzen neugierig machen. Was mag sich dahinter verbergen? Abenteuerlust, Spannung, Ausloten von Möglichkeiten, Vorstoßen in neue Welten und Kontexte, das alles produziert Energie. Wohin gelangt man und welche Ziele lassen sich erreichen, wenn man die Grenze überwindet? Wobei der Pioniergeist zuweilen aus dem Blick verliert, dass es in unserer klein gewordenen Welt keineswegs grenzenlos zugeht, denn die weiteren Marktteilnehmer und erst recht gesetzliche und andere Regelungen limitieren das Handeln. Insofern lässt sich eine Grenze immer auch deuten als produktiver Auslöser für die Suche nach dem Neuen: neue Ideen, neue Märkte oder neue organisatorische Lösungen.

Exemplarisch sei auf die heute kaum absehbaren Folgen einer Entwicklung wie „Industrie 4.0“ verwiesen. Ich gehe davon aus, dass es in und zwischen den Organisationen zu temporären Kooperationsformen kommen wird, die weit über das hinausgehen, was wir heute kennen. Die Außengrenzen einer Organisation werden durchlässig und zumindest partiell in Frage gestellt – und die intraorganisationalen Grenzen werden folgen müssen. Bald wird sich erweisen, dass eine starre, allein nach klassischer Ressortverteilung strukturierte Organisation nicht mehr geeignet ist, den sich permanent ändernden Konstellationen des Marktes zu folgen. Wie sich das auf die dennoch weiter vorhandenen Bedürfnisse nach Identität, Stabilität, Handlungsorientierung und Sinn auswirkt, bleibt abzuwarten.

Fazit: Grenzen sind wichtig!

Die reflektierte Auseinandersetzung mit Grenzen zeigt auf, dass wir es mit einer wichtigen Ressource zu tun haben. Wobei Grenzen in 2 gegenläufige Richtungen wirken: Sie sorgen einerseits für Stabilität und Sinn. Das macht sie attraktiv, wenn etwas erreicht wurde, das es zu bewahren gilt. Andererseits fordern Grenzen heraus, wecken Pioniergeist und Initiative. Aus diesem Spannungsfeld wirken Grenzen ausgesprochen produktiv – wenn sie in ihrer funktionellen Vielfalt anerkannt werden.

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