Gefangen in den eigenen Emotionen: Lektion einer Blinden /#23
„Ich habe gelernt, dass es für mich wichtig ist, mich nicht meinen Gefühlen und Emotionen auszuliefern. Ich bin mehr als meine Gefühle.“ Das sind erstaunliche Aussagen. Ich höre sie von Dorothee Roth, einer Blinden, die über ihre persönlichen Erfahrungen spricht. Während ihres Vortrags kann ich Dorothee nicht sehen. Denn ich befinde mich gemeinsam mit rund 160 Personen in einem großen Saal, der vollkommen abgedunkelt ist. Nicht ein Lichtstrahl, nicht ein heller Fleck, nur absolute Dunkelheit: In diesem Moment sind wir alle blind.
Dorothee Roth arbeitet im Frankfurter Dialogmuseum als Museumsführerin. Doch sie spricht nicht so sehr über ihre Arbeit. Es geht darum, wie es ist, der Rücksichtslosigkeit Anderer ausgeliefert zu sein. Aber auch, wie es ist, Mitleid zu spüren – was viel schlimmer sei. Ich glaube zu verstehen, was sie meint: Mitleid macht jene klein, denen wir Mitleid entgegen bringen.
Ein paar Worte zum Frankfurter Dialogmuseum und zu der Dunkel-Konferenz, auf der ich den Vortrag hörte: Das Dialogmuseum bietet die Möglichkeit, in absoluter Dunkelheit Erfahrungen zu machen – mit Alltagssituationen, die jeder kennt. Hier geht es zur Homepage: http://dialogmuseum.de/dialog-im-dunkeln. Ich selbst hatte noch nicht Gelegenheit, diesen Ort näher kennenzulernen. Aber ich habe vor einigen Jahren die Installation „Unsicht-Bar“ besucht. Hier bewegt man sich in völliger Dunkelheit, tastet sich voran und kann sogar an einer Theke ein Getränk bestellen. Begegnet man anderen Menschen, so sieht man rein gar nichts von ihnen: Der Kontakt geschieht nur auditiv und taktil. So ähnlich ist es auch auf dieser Dunkel-Konferenz, auf der ich mich befinde, während ich Dorothee Roth zuhöre. Die Dunkel-Konferenz wird von „all-in-one-spirit“, ausgewiesene Spezialisten für Großgruppenkonferenzen, organisiert. Hier geht es zur Homepage: http://www.all-in-one-spirit.de. Zum Thema Großgruppenkonferenzen habe ich mich bereits hier geäußert: https://axon-blog.de/wenn-ein-stein-vom-herzen-fallt.
Gegen den Strich: Emotionen nicht zu wichtig nehmen
Um meine Verblüffung gegenüber Dorothee Roths Distanzierung von ihren Gefühlen nachvollziehen zu können, ist ein Hinweis in eigener Sache sicherlich hilfreich. In meiner persönlichen Entwicklung habe ich überwiegend die Erfahrung gemacht, dass die emotionale Verfassung der Menschen nicht ausreichend berücksichtigt wird. Das gilt gerade in Wirtschaftsunternehmen und häufig auch in großformatigen Veränderungsprojekten. Unsicherheit oder offene Bereitschaft gegenüber dem Neuen, Freude oder Angst, persönliche Ablehnung der Veränderer oder freundliche Offenheit: Die emotionale Haltung der Menschen entscheidet, ob ein Veränderungsvorhaben der Organisation gelingt oder nicht. Insofern ist es Ausdruck eines ganzheitlich auf die Menschen ausgerichteten Verständnisses von organisatorischen Gestaltungs- und Veränderungsprozessen, eben auch ihre Emotionen zu berücksichtigen. Und das soll nicht hilfreich sein?
Auch wenn ich seinerzeit nicht die Chance hatte, mit Dorothee Roth persönlich zu sprechen, so glaube ich doch, dass sie dem hier skizzierten ganzheitlichen Verständnis von personenzentrierten Veränderungskonzepten zustimmen würde. Ihren Hinweis verstehe ich vielmehr als Appell an uns selbst, uns nicht den eigenen Gefühlen auszuliefern.
Emotionen können belasten
Gerade als Organisationsexterner beobachte ich eigentlich überall, dass es in der ach so rationalen Unternehmenswelt von Emotionen nur so wimmelt. Gegenseitige Ablehnung, persönliche Animositäten, sorgfältig gepflegte Feindschaften: Es gibt praktisch keinen Entscheidungsprozess, der nicht durch Befindlichkeiten geprägt ist. Beispiele gefällig?
- Bei der Vorbereitung einer Ergebnispräsentation anlässlich der abgeschlossenen Ist-Aufnahme mit nicht nur schmeichelhaften Ergebnissen werde ich belehrt: „Ihre Diagnose können Sie unserem Chef auf keinen Fall einfach so mitteilen, das empfindet er als Kritik und Kritik kann er nicht leiden.“
- Auf der Vorstandssitzung erlebe ich, wie ein Vorstandsmitglied vehement, beinahe beleidigend gegen eine an sich unkritische Entscheidung argumentiert. Schließlich wird die Entscheidung vertagt, das Projekt verliert wertvolle Zeit. Hinterher erfahre ich: „Das ist immer so. Wenn Vorstand x für ein Thema eintritt, dann ist jenes Vorstandsmitglied y automatisch dagegen, unabhängig vom Sachverhalt.
- Zwei Kandidaten für die Nachfolge einer hochrangigen Führungskraft, die bald in den Ruhestand gehen wird, befinden sich auf der Führungstagung. Als einer der beiden unter großem Applaus das Change-Projekt und die bereits erzielten Resultate vorstellt, meldet sich der andere zu Wort. Das Projekt sei sehr zu begrüßen, argumentiert er, aber es greife eigentlich zu kurz. Seine visionären Ideen klingen zwar beeindruckend, aber entbehren praktisch jeder Chance auf Realisierbarkeit. Immerhin gelingt es ihm, den ursprünglich guten Eindruck zu relativieren, den sein Konkurrent erzeugt hatte.
Ich bin sicher, dass auch Sie zahlreiche Erfahrungen berichten könnten, in denen Emotionen die Regie führten. Wenn dadurch aber eine wichtige Entscheidung verhindert wird; wenn es nur noch um Selbstinszenierung, um das Ego, um persönliche Ablehnung geht; wenn also die Sache praktisch keine Rolle mehr spielt: Dann werde zumindest auch ich manchmal emotional. Im Ergebnis kann es mir passieren, dass ich den Fokus auf das eigentliche Anliegen verliere.
Genau hier aber setzt nach meiner Interpretation der Hinweis von Dorothee Roth an: Ich bin mehr als meine Gefühle. Es lohnt sich, darüber immer wieder nachzudenken.
2 Kommentare
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Danke, ein wichtiger Beitrag.
Das Mantra “Wir müssen die Emotionen mit berücksichtigen” verkommt immer mehr zu “Emotionen sind wichtiger als die Ratio”. Und das kann es doch auch nicht sein. Ich finde: Wahrnehmen der Emotionen: Ja, klar. Sich unreflektiert von den Emotionen treiben lassen: Nein!
Und das gilt für mich sowohl im Unternehmen als auch im Privatleben.
Ja, eine wunderbare Grundhaltung. Sie führt mich zu der sehr wirkungsvollen Disidentifikationsübung von Roberto Assagioli (Psychosynthese):
Disidentifikationsübung:
1.
Ich habe einen Körper, aber ich bin mehr als mein Körper
Mein Körper mag in unterschiedlicher Verfassung sein, gesund oder krank, er mag ausgeruht oder müde sein, dies hat jedoch nichts mit meinem Selbst zu tun, mit meinem wirklichen Ich. Mein Körper ist mein kostbares Instrument der Erfahrung und des Handelns in der äußeren Welt, aber er ist nur ein Instrument.
Ich behandle ihn gut, versuche ihn gesund zu halten, aber er ist nicht mit mir identisch, ist nicht Ich.
Ich habe einen Körper, aber ich bin mehr als mein Körper.
2.
Ich habe Gefühle, aber ich bin mehr als meine Gefühle.
Diese Gefühle sind zahllos, widersprüchlich, wechselhaft, und dennoch weiß ich, daß ich stets Ich bleibe,
ich selbst, in Zeiten der Hoffnung oder der Verzweiflung, in Freude oder Leid, in Zeiten der Unruhe oder der Ruhe. Da ich meine Gefühle beobachten, verstehen und beurteilen kann, sie zunehmend beherrsche, ihnen
eine Richtung gebe und sie gebrauche, ist es offensichtlich, daß sie nicht ich selbst sind.
Ich habe Gefühle, aber ich bin mehr als meine Gefühle.
3.
Ich habe Verlangen, aber ich bin mehr als mein Verlangen, das durch innere Impulse und durch äußere Einflüsse geweckt wird, das körperlich oder emotional ist. Auch Begierden sind vergänglich und widersprüchlich und unterliegen dem Wechsel von Anziehung und Abstoßung.
Ich habe Verlangen, aber ich bin mehr als mein Verlangen.
4.
Ich habe einen Verstand, aber ich bin mehr als mein Verstand.
Er ist mehr oder weniger entwickelt und aktiv; er ist undiszipliniert, aber gelehrig, er ist ein Organ
der Erkenntnis bezüglich der äußeren und inneren Welt, aber das bin nicht ich selbst.
Ich habe einen Verstand, aber ich bin mehr als mein Verstand.
5.
Nach dieser Disidentifikation des Ich von den Inhalten des Bewußtseins, erkenne und bekräftige ich,
Ich bin ein Zentrum reiner Selbst-Bewußtheit. (oder: reine Seins)
Ich bin ein Zentrum des Willens und fähig, meine seelischen Prozesse und physischen Körper zu benutzen
zu beherrschen und in bestimmte Richtung zu lenken.
Hier noch ein paar spielerische Varianten für andere Disidentifikationsfelder:
Ich habe einen Porsche, aber ich bin mehr als mein Porsche.
Ich habe ein Ego, aber ich bin (hoffentlich 😉 )mehr als mein Ego.
Ich habe Fehler, aber ich bin mehr als meine Fehler
usw… der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.