Wenn ein Stein vom Herzen fällt /#9

von | 15/04/2013 | 0 Kommentare

Mit Großgruppenkonferenzen den Change-Prozess treiben

Da ist er, der Stein. Faustgroß, cremefarben, eine Seite der glatten Oberfläche mit schwarzem Stift beschriftet. Joachim Mertens, seit kurzem Teamleiter im Marketingbereich eines großen Lebensmittelkonzerns, hatte darauf geschrieben: „Nachfragen“. Und den Stein gut sichtbar auf seinen Schreibtisch gestellt, gleich neben das Telefon.

Ich besuche Joachim Mertens vier Wochen nach Abschluss einer eineinhalbtägigen Großgruppenkonferenz, die ich im Auftrag des besagten Unternehmens konzipiert und moderiert hatte. Zeitnah zur Konferenz soll in einer Reihe von Evaluationsgesprächen ermittelt werden, wie es in den verschiedenen Initiativen vorangeht, die auf der Großgruppenkonferenz gestartet wurden. Mertens war einer von rund 120 Teilnehmern. Als es auf der Konferenz an die Planung von notwendigen Initiativen ging und verantwortliche Koordinatoren gesucht wurden, meldete er sich für die Initiative, die ein neues Führungsleitbild erarbeiten sollte. Für das Unternehmen ein ungewöhnliches Vorgehen: Junge Mitarbeiter erhielten bislang kaum derart verantwortungsvolle Aufgaben. Aber um neue Wege einzuschlagen, gab es hinreichende Gründe.

Change the Change – Betroffene werden zu Akteuren

In dem Lebensmittelkonzern waren Mitarbeiterzufriedenheit, aber auch die Qualitätskennzahlen seit einiger Zeit signifikant schlechter geworden. Reaktionen des Marktes blieben nicht aus: Wichtige Kunden beschwerten sich, Wachstumsziele wurden verfehlt. Trotz eines ganzen Bündels von Einzelmaßnahmen stellten sich lediglich graduelle Verbesserungen ein. Nach turbulenten Diskussionen entschied sich die Unternehmensleitung schließlich dafür, einen umfassenden Change-Prozess zu initiieren. Dabei galt das Prinzip „Change the Change“. Bisher war es üblich gewesen, dass ein kleines Projektteam ausarbeitete, was zu tun sei. Nach Genehmigung durch die Unternehmensleitung erteilte man die entsprechenden Anweisungen – fertig. Die Mitarbeiter waren dem Veränderungsprozess weitgehend passiv ausgesetzt. Zugespitzt: Sie veränderten nichts, sie wurden verändert. Wobei man wohl eher sagen muss: Sie sollten sich verändern lassen.

Doch genau das funktionierte nicht mehr. Deshalb wurde ein vollkommen anderer Weg eingeschlagen: Von Beginn an sollten die Mitarbeiter zu den zentralen Akteuren des Wandels werden, sollten die aus ihrer Sicht relevanten Ansatzpunkte für tiefgreifende Veränderungen identifizieren und die Maßnahmenplanung sowie -umsetzung selbst verantworten. Dieser Change-Prozess wurde mit der besagten Großgruppenkonferenz, die als „Zukunftsforum“ konzipiert war, unter der appellierenden Überschrift „Initiate Change“ gestartet.

Das „Zukunftsforum“: komponiert aus verschiedenen Großgruppendesigns

Seit den 1980er Jahren haben sich verschiedene Designs für die teilnehmerfokussierte Konferenzen mit großen Gruppen entwickelt. Großgruppenkonferenzen. Obwohl weitgehend unabhängig voneinander entstanden, eint die verschiedenen Großgruppenformate das Prinzip maximaler Partizipation: Teilnehmer werden zu verantwortlichen Gestaltern der Konferenz. Ermüdende Frontalvorträge, Passivität oder Konsumentenhaltung finden nicht statt. Die wichtigsten – nicht die einzigen – Großgruppendesigns sind:

  • Zukunftskonferenz (entwickelt von Marvin Weisbord und Sandra Janoff)
  • Real-Time-Strategic-Change-Konferenz/ RTSC (entwickelt von Kathy Dannemiller)
  • Open Space-Konferenz, auch: Open-Space-Technology (entwickelt von Harrison Owen)
  • World Café (entwickelt von Juanita Brown und David Isaacs).

Ich verzichte hier darauf, die einzelnen Formate genauer vorzustellen. Ein erster Überblick findet sich auf der Homepage des conex-Instituts: http://www.conex-institut.de/downloads/13-62-30/Forum%20of%20Change.pdf Weitere Informationen bietet diese Seite: http://www.all-in-one-spirit.de/res/ressourcen.htm.

Im conex-Institut haben wir sowohl Großgruppenkonferenzen nach den genannten Designs begleiten dürfen als auch solche Veranstaltungsdesigns entwickelt, die verschiedene Formate und Vorgehensweisen aus dem Methodenrepertoire der Großgruppenkonferenzen kombinieren. Wir bezeichnen diese Interventionen als „Zukunftsforum“. Gerade dann, wenn die Großgruppenkonferenz einen wichtigen Schritt in einem umfassenden Veränderungsprojekt darstellt, scheinen uns individuelle Anpassungen eher geeignet zu sein. Denn die Organisation will in ihrem Change-Prozess wichtige, womöglich überlebenswichtige Ziele erreichen – und das unter Berücksichtigung unternehmensspezifischer Gegebenheiten. Spätestens dann steht nicht die puristische Anwendung einer Methode im Zentrum, sondern die individuelle Situation des Unternehmens. Was nicht falsch zu verstehen ist: Oftmals sind es eben doch die klassischen Formate in ihrer reinen Form, die der Organisation auf ihrem Weg zur Veränderung helfen.

„Initiate Change“

Das Zukunftsforum, das wir für den Lebensmittelkonzern durchführten, setzte an den positiven Erfahrungen der Vergangenheit an. Als Vorbereitung wurden die Teilnehmer gebeten, jeweils auf einem Flip-Chart in textlicher oder grafischer Form einen Moment vorzustellen, den sie rückblickend als exzellent erlebt haben. Alle Flip-Charts wurden zu Beginn des Zukunftsforums aufgehängt. Nach dem Zufallsprinzip gebildete Kleingruppen sichteten die Flip-Charts und arbeiteten die Prinzipien heraus, die eine als exzellent erlebte Situation ausmachten.

Es ergab sich, dass in der Organisation eine ganze Reihe exzellenter Momente erlebt wurden. Prinzipien wie „Anerkennung meiner Leistung“, „Ansprechbarkeit meiner Vorgesetzten für Probleme“ oder auch „Klare Anweisungen“ und „Zuverlässigkeit und Konsequenz“ wurden abgeleitet. Schon dieser erste Schritt sorgte für einen wichtigen Aha-Effekt: „Wir sind ja gar nicht so schlecht!“ „Wir können es doch.“ Mitarbeiter aller Bereiche und Hierarchieebenen erkannten ihre Potentiale und Ressourcen anhand konkreter Beispiele aus eigener, persönlich erlebter Praxis. Das setzte Energie und Motivation frei.

In weiteren Arbeitsschritten wurden die wichtigsten Ansatzpunkte für Veränderungen ermittelt. Dabei gelang es, Zuhörbereitschaft und gegenseitiges Verständnis aufrecht zu erhalten. Die Teilnehmer nahmen wahr, dass jede Sichtweise und auch kritische Auffassungen ernst genommen wurden. So wuchs die Bereitschaft, sich gestaltend in den Veränderungsprozess einzubringen – und den Wandel auch bei sich selbst zu initiieren.

Der Stein fällt vom Herzen

Es sind nicht zuletzt symbolisch aufgeladene, auf den ersten Blick ungewöhnlich anmutende Interventionen, die ein Zukunftsforum wie auch andere Großgruppenkonferenzen zu etwas Besonderem machen. Deshalb erhielt im letzten Arbeitsschritt jeder Teilnehmer einen Stein. Auf diesen Stein galt es etwas ganz Konkretes zu schreiben, also eine Tätigkeit, mit der der Teilnehmer zur Lösung eines wesentlichen Problems beitragen könnte.

Auf dem Zukunftsforum konnte Joachim Mertens die Frage nach dem persönlichen Beitrag sofort antworten. Nicht als einziger hatte er zuvor sehr deutlich aufgezeigt, dass er von seinen Vorgesetzten oftmals unklare oder widersprüchliche Anweisungen erhielt. Die Auseinandersetzungen und Diskussionen führten zu der Erkenntnis, dass niemand einfach nur „Opfer“ seiner Führungskraft ist: Jeder kann einen persönlichen Beitrag dazu leisten, dass sich die Dinge verbessern. Mertens nahm sich vor, ab sofort konsequent nachzufragen, wenn ein Auftrag, eine Aufforderung oder eine Anweisung für ihn nicht ausreichend klar war. Genau das schrieb er auf seinen Stein.

Als ich ihn in unserem Evaluationsgespräch frage, wie es seit dem Zukunftsforum weitergegangen sei, höre ich Überraschendes: Die Initiative zur Entwicklung eines neuen Führungsleitbilds wurde gestartet. Es gab bereits zwei Treffen, auf denen wichtige Inhalte zusammengetragen wurden, die in das Leitbild aufgenommen werden sollen.

Mit Blick auf seinen Stein fügt Joachim Mertens hinzu: „Nachfragen musste ich übrigens seit dem Zukunftsforum noch nicht ein einziges Mal. Alle Vorgesetzten geben sich große Mühe und achten auf klare Vereinbarungen. Ich finde, dass der Change-Prozess bereits in vollem Gange ist“.

0 Kommentare

Trackbacks/Pingbacks

  1. axon – Der Blog von Guido Wolf » Bitte ändern Sie mit angepasster Geschwindigkeit._#31 - [...] Den Wandel gemeinsam beginnenEs sollte frühzeitig geprüft werden, ob für den Veränderungsprozess Formate aus dem Fundus der Großgruppenkonferenzen genutzt…

Einen Kommentar abschicken

Dr. Guido Wolf,
Kommunikationsforscher

Unternehmensberater – Trainer – Moderator – Coach

Institutsleitung conex.

Institut für Consulting, Training, Management Support

Nähere Informationen über mich finden Sie hier > (PDF)

Hier finden Sie weitere Informationen über mein Beratungsinstitut
www.conex-Institut.de

Hier finden Sie nähere Informationen über mein Angebot zum Executive Coaching
www.exe-co.de

Dr. Guido Wolf

Heinrich-von-Kleist-Str. 11
53113 Bonn
Germany

Tel.: +49 (0) 228 911 44 22
Mobil: +49 (0) 171 47 58 115
E-Mail: gwolf@conex-institut.de