Das Ganze im Blick: Kontext-Management_#72
Immer wieder stelle ich fest, dass Unternehmensleitungen die ihnen anvertraute Organisation nach einfachen mechanistischen Modellen zu steuern versuchen. Um die Rekrutierung von Nachwuchskräften kümmert sich die Personalabteilung; Compliance ist die Aufgabe der Rechtsabteilung; geht es um Kundenzufriedenheit, werden Qualität und Qualitätsmanagement wichtig; und um die Betriebsgenehmigung für die Produktion aufrecht zu erhalten, wird die Umweltabteilung wichtig, weil ein Behördenbesuch ansteht. Die Steuerung folgt also diesem Modell:
- Thema A > wird von Abteilung A behandelt
- Thema B > wird von Abteilung B behandelt
- Thema C > usw.
Zugrunde liegt eine Art linear gedachter Mechanik, die voraussetzt, dass voneinander unabhängigen Einflussgrößen durch jeweils separat und spezifisch aufgesetzte Maßnahmen angemessen zu begegnen ist. Was nicht stattfindet, ist eine Auseinandersetzung mit dem Gesamtkontext, der aus der Gemengelage aller Themen besteht, die obendrein in komplexen Wechselwirkungen zueinander stehen. Diese Gemengelage bezeichne ich (und nicht nur ich) als „Kontext“, die ganzheitliche Sicht darauf und die Ausrichtung des Unternehmens auf diesen vielgestaltigen, sich zudem in permanenter Veränderung befindlichen Kontext nenne ich „Kontext-Management“. Hier einige erste Schritte, wie Kontext-Management aussehen könnte.
Perspektiven, Themen und Stakeholder: der Kontext
Ausgehend vom eigenen Unternehmen und dem zugrundeliegenden Geschäftsmodel gilt es zunächst, die verschiedenen Perspektiven zu identifizieren, die für die Organisation relevant sind oder relevant sein können. Diesen Perspektiven werden die entsprechenden Themen sowie Stakeholder zugeordnet. Das hieraus emergierende Geflecht bildet den Kontext, in dem das Unternehmen tätig ist. Ein (hier notwendig kurz gehaltenes) Beispiel anhand eines fiktiven Produktionsunternehmens:
Perspektiven | Themen | Stakeholder |
Output
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Input
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Staff
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Society
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… |
Eine so oder ähnlich gestaltete Übersicht (wie gesagt, an dieser Stelle kurz gehalten) dürfte für manches Unternehmen nicht unbedingt eine bahnbrechende Innovation bedeuten. Im Gegenteil, längst wurden die relevanten Perspektiven jeweils fachlich spezialisierten Bereichen oder Abteilungen zugewiesen: Um die Qualität kümmert sich das Qualitätsmanagement, um Compliance kümmert sich die Rechtsabteilung usf. (siehe oben). Fragt man jedoch eine beliebige Fachabteilung nach ihren thematischen Verbindungen zu anderen Aufgabenbereichen, erntet man häufig Achselzucken. Ein konstruiertes Beispiel: Wer in der Personalabteilung das Thema Umweltschutz anspricht, wird dort voraussichtlich an die Umweltabteilung verwiesen. Dass jedoch ein glaubwürdig nachgewiesenes ökologisches Engagement auch bei der Rekrutierung junger Nachwuchskräfte hilft, kommt nicht ohne weiteres in den Sinn. Was aufgrund der jeweiligen Konzentration auf die eigenen Belange häufig fehlt, mindestens aber unterkomplex gehandhabt wird, ist eine ganzheitliche Betrachtung, die eben auch Wechselwirkungen transparent macht.
Wechselwirkungen bergen Risiken, wenn sie ausgeblendet werden
Wenn jeder seinen Job macht, was soll da schief gehen? Antwort: so einiges. Auch hier wieder einige Beispiele, die realer Unternehmenspraxis entnommen sind:
- Die betriebswirtschaftlich (Kosten!) wie auch umweltrechtlich motivierte Auslagerung „schmutziger“ Prozesse an Zulieferer in Ländern, die es mit dem Umweltschutz nicht so genau nehmen („dann haben wir nicht mehr das Problem!“), wird vom Hauptkunden festgestellt. Diese Entscheidung, die durch den Materialeinkauf in Absprache mit der Produktion, jedoch ohne Einbindung weiterer Bereiche (Sales; Marketing; Umweltabteilung) getroffen wurde, sorgt für erhebliche Belastungen der Geschäftsbeziehung.
- Das Produktmanagement eines Lebensmittelproduzenten generiert aufgrund von Marktforschungsergebnissen ein neues, an junge Zielgruppen gerichtetes Verpackungsdesign. Dies erfordert jedoch den Einsatz von Druckfarben, die auf den Verpackungsinhalt (die Lebensmittel) wirken können, wie eine viel zu spät angestoßene Laboruntersuchung ergibt. Die Fokussierung auf die Vermarktung unter Vernachlässigung von Qualitäts- und Umweltaspekten (Entsorgung) macht eine teure Rückrufaktion notwendig.
- Eine mit großer Geste angekündigte Sonderprämie für die Mitarbeiter eines erfolgreichen Projekts sorgt für Ungerechtigkeitsempfinden bei Zeitarbeitskräften, die im selben, hier prämierten Projekt tätig sind und mindestens denselben Anteil am Erfolg haben. Um die Zeitarbeitskräfte kümmern sich jedoch andere Bereiche. Schon klar, dass man den Zeitarbeitnehmern aus verschiedenen Gründen keine Prämie zahlen kann, aber zumindest eine entsprechende Dankesgeste wäre hilfreich gewesen.
- Das vom Unternehmen eher als lästige Notwendigkeit und deshalb wenig glaubwürdig praktizierte gesellschaftliche Engagement spricht sich in sozialen Netzwerken herum und sorgt dafür, dass junge Nachwuchskräfte kaum noch zu gewinnen sind.
Es ließen sich zahllose weitere Beispiele anführen. Das Resultat ist stets dasselbe: Die isolierte Betrachtung einer Perspektive schafft Risiken, da die verschiedenen Perspektiven aufeinander einwirken. Sogar innerhalb einer Perspektive provoziert eine arbeitsteilige Sicht möglicherweise Konflikte zwischen verschiedenen Stakeholdern (siehe das erste Beispiel). Zusätzlich muss in Betracht gezogen werden, dass sich das Geflecht der Perspektiven und Wechselwirkungen ständig verändert – man denke nur an die Folgen der digitalen Transformation.
Lösungsansatz: Kontext-Radar und cross-funktionale Teams
Es braucht also einen Managementansatz, der den Kontext in seiner Gesamtheit analysiert und auf seine Relevanz für die Unternehmensführung bewertet. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, in cross-funktionalen, also abteilungsübergreifenden Teams den Kontext überhaupt erst zu ermitteln (was nicht selten zu überraschenden Entdeckungen von „schwarzen Löchern“ führt) und anschließend in einer Art Radar anzuordnen. Dabei lassen sich grundsätzlich unterscheiden:
- Perspektiven mit direkter, unmittelbarer Wirkung auf die Organisation
- Müssen bei kontinuierlicher Beobachtung aktiv gemanagt werden, etwa durch definierte und ständig ablaufende Prozesse, definierte Kommunikationsschnittstellen o.ä.
- Perspektiven mit potentieller Wirkung auf die Organisation
- Werden kontinuierlich beobachtet, aber nur punktuell aktiv gemanagt, etwa durch selten und nur anlassbezogen stattfindende Prozesse
- Perspektiven aus dem weiteren Umfeld
- Unterliegen aufmerksamer Beobachtung (beispielsweise regulatorische oder technologische Entwicklungen/ Trends in einem frühen Stadium).
Der Kontext-Radar in einer Visualisierung, hier nur angedeutet und auf die 3 Perspektiven Output, Society sowie Staff beschränkt:
Dieser Kontext-Radar wird in einem nächsten Schritt um die Wechselwirkungen ergänzt und kann dann auf Risiken und Chancen für das eigene Geschäftsmodell bewertet werden. Aufgrund der bereits oben angesprochenen Dynamik in volatilen Zeiten ist jedoch auch der Kontext-Radar als dynamisches Werkzeug zu behandeln: Auch dieser dürfte sich immer wieder neu darstellen.
Das bedeutet Aufwand – der sich jedoch lohnt. Denn mithilfe eines Kontext-Managements wie hier aufgezeigt gewinnt die Organisation eine souveräne Position gegenüber dem für sie wirksamen Themen- und Stakeholder-Geflecht aus den verschiedenen Perspektiven. Maßnahmen können effektiv wie auch effizient in einem ganzheitlichen Sinn aufgesetzt und deutlich besser als bisher koordiniert werden, weil Folgen und Folgen von Folgen rechtzeitig zu erkennen sind.
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