Bloß kein Kontrollverlust_#59

von | 18/06/2017 | 0 Kommentare

Die angstbefreiende Aufgabe der Allwirksamkeitsannahme

Wer etwas sagen möchte, das auf die Zustimmung aller trifft, könnte beispielsweise diesen Satz äußern: „Führungskräfte müssen in ihrer Kommunikation offen und authentisch sein.“ Insbesondere Führungskräfte auf höchster Ebene nicken zustimmend: ja sicher, ist doch klar. Es ist daher bemerkenswert zu erleben, mit welchem Aufwand Kommunikationssituationen präpariert werden, selbst wenn diese vor einem vergleichsweise kleinen Publikum stattfinden.

„Offen und authentisch“ – wirklich?

Ich moderierte das Führungskräftemeeting eines international sehr erfolgreichen Mittelständlers der Verpackungsindustrie. An der zweitägigen Veranstaltung nahmen neben den Zentralbereichen der in Norddeutschland ansässigen Zentrale die Top-Führungskräfte aus den Standorten in Nordamerika, Südafrikas, Indien sowie Osteuropa teil. Der Vorbereitungsaufwand war beträchtlich – sämtliche Folien, die in den verschiedenen Impulsvorträgen gezeigt werden sollten, wurden mehrfach diskutiert, geändert und abermals geändert. Selbst meine Folien, die keine strategische Positionierung o.ä. betrafen, sondern nur das Vorgehen in den teilweise offenen Arbeitsformen beschrieben, wurden hinterfragt. Ein Drehbuch legte fest, wer was in welcher Phase sagen sollte. Sogar meine Moderation durch die Ergebnispräsentationen sollte bis auf die konkrete Äußerung festgelegt werden, was ich jedoch verhindern konnte. Aber immerhin, offene Arbeitsformen (in diesem Fall orientiert am World Café) waren genehm, zumal sie zur neu definierten, auf Offenheit fokussierten Unternehmensvision passten. Treiber all dessen war der geschäftsführende Gesellschafter, der sowohl den Unternehmenswert der Offenheit unbedingt im Zentrum der Vision sehen wollte, aber gleichzeitig auf ein haarklein ausformuliertes Drehbuch bestand.

Als es am zweiten Tag zum Abschluss der letzten Gruppenarbeitsphase an die Präsentation der Ergebnisse ging, geschah es. Ein freundlicher Bereichsleiter hatte für seine Arbeitsgruppe die Ergebnisvorstellung übernommen. Ich dankte ihm, stellte ihm jedoch spontan noch eine Frage, die im Drehbuch nicht vorgesehen war. Ich fragte: „Was war für Sie ganz persönlich die größte Überraschung dieser Konferenz?“ Das Gemurmel der Teilnehmer erstarb, spürbar waren plötzlich Aufmerksamkeit und Interesse im Raum. Der Bereichsleiter überlegte etwas, denn diese Frage überraschte ihn (auch er kannte das Drehbuch). Schließlich fiel ihm eine Antwort ein, die zudem noch witzig war. Bevor der nächste Ergebnispräsentator, den ich gerade ansagen wollte, auftreten konnte, kam der geschäftsführende Gesellschafter des Unternehmens auf die Bühne. Er nahm mir das zweite Mikrofon ab und sagte irgendetwas an. Diese Unterbrechung war ebenfalls nicht im Drehbuch vorgesehen. Bevor er mir das Mikrofon zurückgab, zischte er: „Und keine Fragen mehr!“

Offenheit – die Offenheit der Anderen?

Sein Problem war ganz offensichtlich, dass etwas passiert war, das so nicht in allen denkbaren Implikationen überlegt worden war. Für einen Moment war die Situation seiner Kontrolle entzogen. Dass auf diese Weise ein wahrhaftiger Moment von Offenheit entstanden war, der ihm eigentlich gefallen musste (und keinerlei Schaden angerichtet hatte), konnte der Mann nicht goutieren: Diese an sich äußerst harmlose, kommunikative Offenheit ging ihm viel zu weit. Wie sich denken lässt, hatte ich keine Gelegenheit mehr, die Situation mit ihm zu diskutieren: Obwohl das Führungskräftemeeting eine sehr positive Resonanz erhalten hatte, wurde ich seitdem nicht mehr kontaktiert.

Wie schon bei anderen Gelegenheiten bin ich auch hier sicher, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt. Schon fallen mir andere Beispiele ein wie etwa jenes eines CEO, der in Townhall-Meetings an verschiedenen Standorten auftrat und im Vorfeld auf alle denkbaren und undenkbaren Fragen durch renitent auftretende Rhetoriktrainer präpariert wurde. Fast überflüssig zu sagen, dass auch in diesem Unternehmen Offenheit als Wert propagiert wurde. Vermutlich ebenso überflüssig zu erwähnen, dass, als dann doch eine unerwartete (und unerwartbare) Frage gestellt wurde, der Auftritt arg ins Wanken geriet.

Es wird also Offenheit gepredigt, doch wenn es um offene Kommunikation im Sinne offener Kommunikationsverläufe geht, dann ist es rasch vorbei mit der Offenheit. Was steckt dahinter?

Ein bisschen Küchenpsychologie

Aus meiner Sicht – die nicht auf Studien oder irgendwelchen anerkannten psychodiagnostischen Verfahren basiert, sondern allein auf persönlichen Erlebnissen und Zuschreibungen – stellt eine wirklich offene, nicht vorstrukturierte Kommunikation für hochrangige Führungskräfte ein Risiko dar: das Risiko, die Kontrolle zu verlieren. Ich erkläre mir das wie folgt:

  • Gerade Menschen, die qua Funktion im Grunde alles kontrollieren und steuern können, prägen die Annahme der Allwirksamkeit aus. Sie erfahren zunächst immer wieder Bestätigung in ihrem Tun, in ihren Anweisungen („was ich will, das wird gemacht“), in ihren Wirkungen („der Erfolg gibt mir recht“). Ob gerade die positiven Wirkungen aufgrund der zuvor getroffenen Entscheidungen und praktizierten Verhaltensweisen zustande kamen, wird vorsichtshalber nicht hinterfragt. Koinzidenz wird mit Kausalität verwechselt.
  • Doch entgegen dieser Allwirksamkeitsannahme erleben die Geschäftsführer und Vorstände dieser Welt zunehmend, dass ihrer Kontrolle in Zeiten zunehmender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (die derzeit heiß diskutierte „VUKA-Welt“ lässt grüßen) zur Illusion wird. Das destabilisiert und macht es erforderlich, zumindest dort, wo etwas im eigenen Einflussbereich stattfinden soll, die Annahme der Allwirksamkeit endlich wieder bestätigt wird.
  • Womit wir bei den Versuchen wären, Kommunikationssituationen, die als „offen“ angesetzt werden, in Wirklichkeit als drehbuchkonforme Vollzugshandlungen und damit als das exakte Gegenteil offener Kommunikation zu gestalten. Endlich gibt es mal wieder einen Moment, in dem maximale Kontrolle ausgeübt werden kann. Damit wird praktisch jede ungeplante Äußerung zum Risiko, in einem der letzten Reservate eigener Allwirksamkeit trotzdem die Kontrolle zu verlieren.

Was man tun kann? Meine sicherlich folgenreiche Empfehlung lautet, die Allwirksamkeitsannahme ganz einfach aufzugeben. In heutigen Zeiten muss jedes Führungskonzept anerkennen, dass es keine Reservate von uneingeschränkter Steuerbarkeit mehr gibt – wenn es sie denn überhaupt jemals gegeben hat. Die Allwirksamkeitsannahme aufzugeben ist insofern ein Akt der Befreiung, denn es bedeutet, die Angst vor Kontrollverlust nicht mehr haben zu müssen. Immerhin: eine Angst weniger…

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Dr. Guido Wolf,
Kommunikationsforscher

Unternehmensberater – Trainer – Moderator – Coach

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