Regeln mit Haltung_#85

von | 15/01/2022 | 0 Kommentare

Teil 2: Integrity als Element der Nachhaltigkeitsstrategie

Was bisher geschah bzw. aufgezeigt wurde (siehe Teil 1, hier):

  • Compliance ist notwendig – aus handfesten strategischen Gründen, denn die Einhaltung von Gesetzen und anderen Vorgaben ist in den Augen relevanter Stakeholder längst zu einem differenzierenden Merkmal geworden.
  • Compliance braucht klare Regeln, qualifizierte Ansprechpartner und definierte Berichtswege. Anderenfalls herrschen Intransparenz, Entscheidungsangst und Handlungsunsicherheit, was in ziemlich beschleunigten Zeiten nicht weiterhilft.

Und doch ist auch ein ausgeklügeltes, vermeintlich gut implementiertes Compliance-System kein Garant gegen Straftaten: Es braucht eine tief in der Organisationskultur verankerte Haltung der Integrität. Damit ist eine ethisch grundierte Einstellung gemeint, die das persönliche wie unternehmerische Handeln an klaren, auf das Gemeinwohl ausgerichteten Werten orientiert.

“Integrität” ist eine Haltung, die in etwas altmodischer Sprache mit „anständig“ oder „rechtschaffen“ übersetzt werden kann. Dieser Haltung muss das reale Handeln entsprechen, soll es als „integer“ gelten. Es reicht also nicht, Integrität zu predigen: Jede und jeder muss „Integrity“ (mittlerweile hat sich der englischsprachige Ausdruck eingebürgert) im konkreten Handeln beständig realisieren. Wer sich hier an Immanuel Kant und seinen „kategorischen Imperativ“ erinnert fühlt, liegt durchaus richtig: Auch da geht es um ein Tun, dass sich an durch Sitte und Pflicht definierten Maximen ausrichtet. Und ehrlich gemeint muss es auch noch sein. Kant hätte sich vermutlich nicht träumen lassen, mehr als 200 Jahre später als früher Parteigänger eines ganzheitlichen Managementansatzes zu gelten (hoffentlich lesen hier keine fundamentalistischen Kantianer mit, denn dann beziehe ich Senge ob meines respektlosen Umgangs mit dem großen Philosophen).

„Integrity Management“: Compliance plus ethisch grundierte Haltung

Wirksame Compliance ist nicht allein durch Regeln zu haben. Erneut taugt der Volkswagen-Konzern als Beispiel:

  • Rund 10 Jahre vor Bekanntwerden des Dieselskandals gab es bei VW einen sehr ernsten Korruptionsfall. Im Jahr 2005 wurde publik, dass die Konzernleitung einigen Mitgliedern des Betriebsrats finanzielle Zuwendungen, Luxusreisen und Dienstleistungen von Prostituierten finanziert hatte, um wohlwollendes Verhalten bei Abstimmungen im Aufsichtsrat zu erkaufen.
  • Verurteilt wurde u.a. Peter Hartz, damals VW-Personalvorstand und Namensgeber der Hartz 1-4 Regelungen zum Arbeitslosengeld.
  • Volkswagen implementierte daraufhin ein umfassendes Compliance-System – und konnte dennoch nicht den Dieselskandal verhindern.
  • Bekanntermaßen ist bis zum heutigen Tag (Januar 2022) juristisch nicht abschließend geklärt, welche Verantwortung der damalige Vorstandsvorsitzende Winterkorn sowie weitere hochrangige Führungskräfte tragen. Doch ist die juristische Klärung der Verantwortung das eine (und sicherlich ausschlaggebende). Aber von außen hat es den Anschein, als sei der obersten Leitung des Konzerns zumindest eine moralische Verantwortung für die Missachtung von Gesetzen und technischen Vorschriften anzulasten.

Deutlich wird: Regeln reichen nicht. Beginnend beim obersten Führungskreis bedarf es einer ethisch grundierten Haltung auf jeder Ebene des Unternehmens, damit die Einhaltung gesetzlicher Vorschriften und der dahinter stehenden moralischen Einstellung zur gelebten Selbstverständlichkeit im täglichen Handeln wird. Regeln mit Haltung: Das ist es, was „Integrity“ meint.

Culture eats process for breakfast

Was viele Führungskräfte komplett unterschätzen, ist der Umstand, dass sie permanent sehr aufmerksam beobachtet werden:

  • „Sie hat verächtlich den Kopf geschüttelt, als der Compliance-Beauftragte darauf hinwies, dass wir mal wieder eine Kommunikationskampagne zur Auffrischung unserer Compliance-Prozesse brauchen“.
  • Oder: „Hast Du gesehen? Als es um unsere Konzernwerte ging, begann der Vorstandsvorsitzende an seinem Handy zu spielen.“

Mit solchen kleinen Fouls in Richtung Compliance und Integrity zeigen Führungskräfte ihre wahre Einstellung – zumindest in der Wahrnehmung ihrer nächsten Berichtsebene. „Dann müssen wir das ja auch nicht allzu ernst nehmen“, lautet die Schlussfolgerung. Resultat ist eine kaum wahrnehmbare Drift innerhalb der Organisation, in der ab irgendwann auch Gesetzes- und andere Regelverstöße zu Kavaliersdelikten werden. Spätestens dann gilt der bekannte Spruch, der auf ein Diktum Peter Druckers zurückgeht: Culture eats process for breakfast (im Original: „Culture eats strategy for breakfast“).

Eingebettet in eine nachhaltig verankerte Kultur der Integrität geht es also um das reale Tun, Unterlassen und Entscheiden. Hier findet Compliance statt – oder nicht. Im Sinne eines ganzheitlich gedachten „Integrity Managements“ ist es die innere Haltung, die auf rote Linien hinweist – auch dann, wenn das vorhandene Regelwerk für den konkreten Fall vielleicht gar keine eindeutige Handhabung definiert. „So etwas tun wir hier nicht“: Ein nachhaltig verankertes Integrity Management sorgt für unmittelbare Anwendung von Werten gerade in unübersichtlichen, komplexen Situationen. Und stärkt auch dann den Rücken, wenn vorgesetzte Etagen es vielleicht nicht ganz so genau nehmen wollen.

Also weg mit den Regeln, Prozessen und Berichtswegen?

Braucht es also gar nicht ein durchorchestriertes Compliance-Management, wenn es doch am Ende auf die Haltung ankommt? Doch! Denn Integrity als „ethischer Kompass“ ersetzt nicht die Regelwerke, Prozesse und Gremien, die rund um das Thema Compliance etabliert wurden und nun auch die „Whistleblower-Richtlinie“ (Erläuterung siehe hier, etwas scrollen bis zum Kasten) zu berücksichtigen haben. Würde sich das Unternehmen „nur“ auf die innere Haltung ihrer Mitarbeitenden verlassen, wüchse die Abhängigkeit von persönlichen Launen und Befindlichkeiten. Nur wer es für erforderlich hielte und im fraglichen Moment daran dächte, würde beispielsweise neue Kolleginnen und Kollegen über geltende Standards instruieren. Oder eben nicht: Compliance wäre ein Produkt des Zufalls.

Vergleichen wir es mit dem menschlichen Körper: Unser Organismus besteht wahrhaftig nicht nur aus dem knöchernen Skelett. Doch ohne Skelett gäbe es keine (physische) Stabilität. Angewandt auf Unternehmen: Regeln, Gremien und Standards tragen die Organisation. Sie geben Stabilität und bieten überindividuell definierte, handlungsleitende Bezugsgrößen. Prozesse mit Compliance-Relevanz werden für alle transparent, messbar und können verbessert werden. Im Sinne eines „sowohl-als auch“ muss jedoch eine ethisch grundierte, in der Unternehmenskultur nachhaltig verankerte Werthaltung hinzukommen, damit Compliance zu wirksamer Selbstverständlichkeit wird. Spätestens hier kommt Integrity ins Spiel – und damit der Anschluss an Konzepte zum Nachhaltigkeitsmanagement.

Integrity, Compliance und Corporate Responsibility

Spätestens seit dem World Summit 1992 in Rio kann das 3-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit als global etablierter Konsens Gültigkeit beanspruchen. Diese 3 Säulen sind bekanntermaßen: Ökologie, Ökonomie und gesellschaftliche Verantwortung. Alle 3 Säulen müssen als Gesamtheit ausbalanciert werden, weil anderenfalls Ungleichheit die Konsequenz wäre. Es liegt auf der Hand, dass die Einhaltung von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften integraler Teil einer aufrichtig wahrgenommenen gesellschaftlichen Verantwortung ist. Das ist schnell behauptet. In Zeiten, in denen ein durchaus begründetes Misstrauen gegenüber den vollmundig vorgetragenen Selbstbeschreibungen der Konzerne zunimmt, ist sehr rasch mit der Frage zu rechnen: Wie macht Ihr das? Nur ein durch Integrity getragenes Compliance-Management, dessen Wirksamkeit in täglicher Praxis nachgewiesen werden kann, vermag eine befriedigende Antwort zu geben.

Es wäre also unzutreffend zu glauben, dass Integrity Management zusätzlich zu Nachhaltigkeit einzurichten ist. Im Gegenteil: Ein Nachhaltigkeitsmanagement, das auf Integrity und Compliance verzichtete, wäre unvollständig. Übrigens liegt in dieser Erkenntnis der wesentliche Grund dafür, dass „Sustainability“ auch unter dem Etikett „Corporate Social Responsibility“ (CSR) geführt wird: Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist nur gewährleistet, wenn gesellschaftliche Verantwortung ein Haupttreiber des unternehmerischen Handelns ist. Integrity und Compliance gehören dazu.

 

Beispiel Nike: Nach wiederholten Verdachtsfällen von Kinderarbeit bei den Zulieferern hat das Unter-nehmen jüngst seinen „Code of Conduct“ aktualisiert. Nike spricht sich explizit gegen Kinderarbeit und Zwangsarbeit aus. Unabhängige wie auch unangekündigte Kontrollen werden akzeptiert (vgl. die Einschätzungen der NGO „aktivgegenkinderarbeit“ [https://www.aktiv-gegen-kinderarbeit.de/firma/nike/; Aufruf 02.10.2021] sowie den Nike „Supplier Code of Conduct & Code Leadership Standards“ [https://purpose.nike.com/code-of-conduct; Aufruf 02.10.2021], dazu die Berichterstattung anhand internationaler Standards im Nike Impact Report [https://purpose-cms-preprod01.s3.amazonaws.com/wp-content/uploads/2021/04/26225049/FY20_NIKE_Inc_Impact_Report2.pdf; Aufruf 02.10.2021]). Obwohl in Ländern, in denen Nike fertigen lässt, die gesetzlichen Vorgaben zu Kinderarbeit entweder lax sind oder nur unzulänglich durchgesetzt werden, ist es für einen global Player mittlerweile undenkbar, einen Nachhaltigkeitsansatz ohne Positionierung hinsichtlich gesellschaftlicher Verantwortung zu verfolgen. Die eingesetzten Materialien, die Fertigungsprozesse, der Umgang mit Abfall, Wasser und andere Umweltaspekte und Sozialstandards können nur im Zusammenwirken mit einer konsequenten Einstellung hinsichtlich Compliance und Integrity wirksam werden. Zumindest von außen und bis auf Weiteres hat es den Anschein, als habe Nike aus der Vergangenheit gelernt.

 

Auch andere, eng mit „Sustainable Development“ verbundene Ansätze wie „Social Responsibility“ oder „Corporate Citizenship“ zeigen auf, dass ein konsequenter Nachhaltigkeitsansatz nur mittels „Integrity“ in Anspruch genommen werden kann. Eindringlich sei deshalb herausgestellt, dass es sehr gute Gründe dafür gibt, Compliance und Integrity als Bausteine im Nachhaltigkeitsmanagement zu definieren und professionell zu betreiben. Wir können es uns nicht mehr leisten, unsere Augen vor unserer real existierenden gesellschaftlichen Verantwortung zu verschließen. Und die hat einiges mit der Einhaltung von Gesetzen und anderen Vorschriften zu tun.

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