Vor dem Knall war die Drift_#74

von | 16/03/2019 | 3 Kommentare

Den Regelverstoß erkennen und strukturelle Blindheit überwinden

Da war sie, die schon immer befürchtete Katastrophe. Ein großer Lebensmittelhersteller musste eine komplette Produktionscharge, die längst ausgeliefert und in nicht geringem Umfang bereits verkauft, wenn nicht sogar in den Bäuchen der Verbraucher gelandet war, aufgrund eines Verunreinigungsrisikos zurückrufen. Der Schaden war immens. Finanzielle und juristische Inanspruchnahme wurden unmittelbar wirksam, aber die mittelbaren Kosten überwogen bei weitem, Reputation und Markenimage waren dahin. Der Clou bei all dem: Das Unternehmen betrieb einen großen Aufwand bei der Qualitätskontrolle, hatte engmaschige Prüfroutinen installiert und verfügte obendrein über ein nach internationalen Standards zertifiziertes Qualitätsmanagement. Wie passt das zusammen?

Von außen ist man schnell mit dem Urteil zur Hand: „Dahinter steckt die Geschäftsführung, die sind nur am Gewinn interessiert. An der Qualität wird gespart.“ Der Stammtisch mag sich einig sein und zuweilen sogar richtig liegen. Aber die reflexhafte Suche nach einem Schuldigen unter Zuschreibung niederer Motive verengt den Blick. Neben den ‚üblichen Verdächtigen‘ ist sehr häufig eine ganz anders gelagerte Ursachen-Gemengelage wirksam: das Driften von Organisationen in ihrer praktizierten Anwendung von Regeln und Vorgaben.

Warum gegen Regeln verstoßen wird und wie daraus eine Drift entsteht

Ich war in meiner beruflichen Praxis immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen die Ursachenanalyse bei aufgetretenen Problemen keine überzeugende Antwort ergab. Qualitätsprobleme wie im eingangs skizzierten Szenario ließen sich nicht auf eine konkrete Handlung oder die Entscheidung einer identifizierbaren Person mit entsprechender Befugnis zurückführen. Erst ein deutlich weiter zurückschauender Blick zeigte, dass der aufgetretene Schaden das Ergebnis einer fast schon kulturell verankerten Einstellung war. Heraus kam, dass bestehende Regeln, die die Ausführung von Tätigkeiten bzw. Prozessen betreffen, in alltäglicher Praxis fast nebenbei und oftmals nur geringfügig verletzt wurden. Aus einem einmaligen Regelverstoß, der lediglich die Ausführung eines einzelnen Prozessschritts oder ein anderes Detail der auszuführenden Tätigkeit betraf, wurde ein neuer ‚Pfad‘, der gleichsam in die Anwendungspraxis der Regel eingebaut wurde. Weil das nur ein Detail zu betreffen schien, wurde die betroffene Regel nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Und schon gar nicht wurde die Existenzberechtigung von Regeln zur Ausführung von Prozessen angezweifelt. Mit dem neuen Pfad aber beginnt die Organisation zu driften.

Erstaunlicherweise stellt sich gar nicht selten heraus, dass Regelverstöße zumindest in Teilen unvermeidbar sind und sogar im Interesse der Organisation liegen können. Hier einige Beispiele für Gründe, weshalb Regeln in der Praxis verletzt werden und manchmal sogar verletzt werden müssen:

  • Die Regel muss auf die konkreten Verhältnisse vor Ort ausgerichtet werden.
    • Beispiel: Regeln zur Lagerung von Materialien oder Rohstoffen, die für einen Produktionsbereich A problemlos anzuwenden sind, müssen für den Bereich B aufgrund anderer räumlicher Gegebenheiten angepasst werden.
  • Die Regel ist zu umständlich und kostet unnötig Zeit.
    • Beispiel: Regeln für die Handhabung von Maschinenteilen in der Montage werden für angelernte Bediener, die nur ausnahmsweise zum Einsatz kommen, abgefasst. Erfahrene, fachlich qualifizierte Monteure können problemlos einzelne Schritte überspringen.
  • Die Anwendung der Regel erfordert Ressourcen, die gerade nicht zur Verfügung stehen.
    • Beispiel: Regeln, bei denen ein Vorgang über ein bestimmtes IT-System dokumentiert werden muss, auf das vor Ort jedoch nicht zugegriffen werden kann, erfordern pragmatische Alternativen.
  • Die Regel widerspricht einer anderen Regel.
    • Beispiel: Eine Regel sieht für die Prozessdurchführung eine ausführliche Dokumentation einzelner Erledigungsschritte vor, weshalb die Ausführung innerhalb einer durch andere Regeln festgelegten Zeit nicht möglich ist.
  • Die Regel ist nicht bekannt bzw. in Vergessenheit geraten.
    • Beispiel: Ein Vorgang findet in einem bestimmten Bereich nur sehr selten statt. Weil der konkrete, „jetzt“ ausgelöste Vorgang wie ein neuer Einzelfall erscheint, wird gar nicht erst vermutet, dass es eine Regel gibt.

Vielleicht denken Sie, dass diese Beispiele auf Fehler in der Architektur der organisationsinternen Regelwerke oder auch auf mangelndes Qualitätsbewusstsein in der Belegschaft zurückzuführen sind? Das trifft sicherlich zu. Aber auch die beste Regel- bzw. Prozessarchitektur kann nicht ausschließen, dass es zu einer Drift kommt, in der sich die tägliche Praxis kaum merklich von den vorgesehenen Abläufen entfernt. Das ist allein schon deshalb unvermeidbar, weil angesichts turbulenter Zeiten – es ist Zeit für das Stichwort VUCA – die gelebte Praxis schneller angepasst werden muss, als die Regelarchitekturen hinterherkommen. Handeln jenseits von Regeln wird zur Regel.

Und das ist der Punkt: Es wird nicht nur von einer Regel abgewichen, es etabliert sich fast unmerklich eine Art Meta-Regel. Die lautet: „Regeln müssen manchmal umgangen werden.“ Oder auch: „Wir können nicht darauf warten, dass wir für diesen Vorgang eine (neue) Regel bekommen, wir müssen JETZT handeln.“ Solche tief sitzenden Regeln wirken wie Gebrauchsanweisungen zum Umgang mit Regeln und gehören zum Geheimwissen einer Organisation. Das merkt man daran, dass neue Mitarbeiter aus Unkenntnis gegen diese impliziten Regeln verstoßen und daraufhin ‚eingenordet‘ werden: „Das machen wir hier anders, weil wir sonst nicht klar kommen.“ Oder: „Du musst noch viel lernen.“ Sehr häufig ist man sich ihrer Existenz gar nicht bewusst, weshalb sie auch durch gezielte Fragen nicht unmittelbar transparent werden. Insofern kann man auch von „impliziten Regeln“ sprechen, was nichts an ihrer Wirksamkeit ändert. Sie werden sukzessive zu Glaubenssätzen oder Grundüberzeugungen und damit zu einem prägenden Faktor der gelebten Organisationskultur. Implizite Regeln liefern im Sinne einer kulturell verankerten Haltung die Voraussetzung für die Drift der Organisation, die wegführt von den offiziellen Regeln.

Die „Challenger-Katastrophe“: Beispiel für eine fatale Drift

Bestätigung findet sich in einem Aufsatz des organisationssoziologisch interessierten Betriebswirts Günther Ortmann. Er zeigt am Beispiel der „Challenger-Katastrophe“ aus dem Jahr 1986, wie ein furchtbares Ereignis aus einer Kette kleiner Regelverletzungen entstehen kann <Günther Ortmann (2014): Das Driften von Regeln, Standards und Routinen; in: Bergmann, Jens/ Hahn, Matthias et al. (eds.): Scheitern – Organisations- und wirtschaftssoziologische Analysen, Wiesbaden: Springer, S. 31-59>.

Wer die Ereignisse nicht vor Augen hat: Am 28. Januar 1986 zerbrach das Space Shuttle Challenger 73 Sekunden nach seinem Start in rund 15km Höhe, alle 7 Besatzungsmitglieder starben. Aufgrund der Challenger-Katastrophe wurde das Space-Shuttle Programm der USA für rund 2 Jahre gestoppt. Als technische Ursache ermittelte man den Ausfall von Dichtungsringen, synonym: „O-Ringen“, in einer der seitlichen Raketen. Es gab eine Reihe von Untersuchungen und Studien, die neben den technischen auch kulturelle Ursachen ermittelten. Insbesondere wurde immer wieder das Fehlverhalten von Managern in gehobenen Positionen herausgestellt. Hier habe man Regeln gebrochen, es sei verantwortungslos entschieden worden und es wurde fast schon kriminell Druck auf nachgeordnete Stellen ausgeübt, um am Ende die staatliche Förderung nicht zu riskieren. Die Analysen ergaben darüber hinaus jedoch eine weitere Ursache: Auf operativer Ebene hatte über Jahre hinweg eine Drift bei der Anwendung von (technischen) Regeln stattgefunden.

Ortmann zeigt anhand einer Untersuchung von Diane Vaughan auf, dass nicht allein fatale Einzelentscheidungen unmoralisch handelnder Manager ursächlich wirksam waren, sondern auch eine Erosion von Standards in ihrer alltäglichen Anwendung (ebd., S. 48ff.). So war in den technischen Bereichen der NASA längere Zeit vor dem Challenger-Unglück bekannt, dass bei den O-Ringen technische Schwierigkeiten vorlagen, aber verstärkt durch über Jahre erfolgreiche Starts der Raumfähren trotz bereits erodierter O-Ringe gewöhnte man sich gleichsam an diesen Zustand. Die Probleme bei den O-Ringen wurden sukzessive zu akzeptablen Risiken umgedeutet. Das wiederum zeigt, wie auch eine zweite Klasse von Standards angepasst wird: Standards für die Beurteilung und Akzeptanz von Risiken. Ganz nebenbei übrigens ein Indikator für die Relevanz meiner an anderer Stelle angesprochenen Mahnung, sich nicht durch Erfolge blenden zu lassen (siehe https://axon-blog.de/erfolgsrisiko-erfolg-selbstgefallig-in-die-pleite-18/). Schematisch lässt sich das Entstehen einer „Drift“ wie folgt beschreiben:

  • Eine Regel wird verletzt, zunächst nur geringfügig und nur in Details. Verschiedene Gründe können dies als sinnvoll erscheinen lassen (s.o.).
  • Die Reaktionen auf die Regelverletzung werden beobachtet, wie unser aller Lebenspraxis zeigt. Denn Menschen sind gute Beobachter, insbesondere in solchen Situationen. Wird die Regelverletzung überhaupt bemerkt? Wird sie bestraft? Bleiben Reaktionen aus oder gibt es sogar eine (kleine, fast unmerkliche) Zustimmung? Zustimmung kann durch ein wohlwollendes Nicken, einen kleinen Scherz des Vorgesetzten o.ä. signalisiert werden.
  • Damit ist der Präzedenzfall da. Aufgrund der Erfahrung, dass buchstäblich nichts passiert, also sowohl eine Zurechtweisung durch Vorgesetzte als auch eine negative Auswirkung ausbleiben, verstärkt sich die Tendenz, gegen die Regel auch zukünftig zu verstoßen. Zusätzliche Verstärkereffekte stellen sich ein, wenn der Regelverstoß sogar als Erfolg verbucht werden kann (z.B. Anerkennung aufgrund schnellerer Erledigung oder eingesparter Kosten). Spätestens jetzt ist die ursprüngliche Regel Opfer der Drift geworden.
  • Zur Drift trägt außerdem eine Art Abstrahleffekt auf andere Regeln bei. Denn der erste Regelverstoß provoziert zusätzlich eine implizite Meta-Regel: „Es ist ok, gegen Regeln zu verstoßen.“
  • Zusätzlich können sich die Standards zur Risikobewertung verschieben.

Dieser als „Drift“ bezeichnete Prozess verläuft in der Praxis oftmals unbemerkt, weil er keineswegs so geradlinig wie hier skizziert stattfindet. Der gefährlichste Effekt der Drift aber entsteht, wenn die Organisation gegenüber der Drift eine strukturelle Blindheit entwickelt. Weil der geschilderte Prozess langsam und kaum bemerkbar verläuft, driftet nicht nur die Einstellung zu Regeln; auch die Wahrnehmung driftet, wir werden buchstäblich blind für die neuen Praktiken bei der Anwendung von Regeln.

Mit der Drift umgehen – von der Drift lernen

Ich behaupte, dass es in allen Organisationen diese Drift gibt. Dabei gehe ich davon aus, dass sich Größe und Komplexität einer Organisation auf die Drift auswirken: Je größer und komplexer die Organisation, desto mehr Drift. Damit meine ich, dass es an mehr als einer Stelle die Drift gibt, dass sie  Hier einige Ideen zum Umgang mit der Drift:

  1. Betrachten Sie Ihre Organisation nicht mit dem Vor-Urteil „So etwas gibt es hier nicht!“, sondern mit der Vorannahme: „Auch bei uns gibt es Drift.“
  2. Versuchen Sie in einem cross-funktionalen Team, das bewusst auch hierarchieübergreifend zusammengestellt ist, real stattfindende Drift-Entwicklungen zu identifizieren. Dabei ist es unabdingbar, dass durch geeignete (Workshop-) Techniken jedes Teammitglied unbefangen zu Wort kommt.
  3. Nehmen Sie bewusst eine andere Perspektive ein. Beispiel: Welche Eindrücke hätte ein neuer Mitarbeiter? Oder, etwas radikaler: Was würden Sie als begeisterter Anhänger anarchischer Verhältnisse entdecken? Die haben es ja nicht so mit den Regeln und deren Einhaltung…
  4. Betrachten Sie Regelverstöße für einen Moment nicht als etwas, das abgestellt werden muss. Betrachten sie den Regelverstoß und die neue, reale Praktik als eine wertvolle Information darüber, wie eine Regel verbessert werden kann oder sogar verbessert werden muss.
  5. Binden Sie für Risikobewertungen andere Perspektiven ein als die Profis, die ohnehin dabei sind. Neben Personen aus eigentlich am Vorgang unbeteiligten Bereichen könnten, ein hinreichendes Vertrauensverhältnis vorausgesetzt, auch ausgewählte Schlüssellieferanten oder Kunden eingebunden werden.

Alle Vorschläge zielen am Ende darauf, die strukturelle Blindheit der Organisation zu überwinden. Wer aufmerksam wird für die Drift, hat beste Chancen, negative Auswirkungen zu vermeiden. Und kann sogar von der Drift lernen.

3 Kommentare

  1. Elena Ungeheuer

    Sehr spannend, lieber Guido, und auch lehrreich über den Bereich von Firmenmanagement hinaus. Ich lese eine Hauptbotschaft heraus, bin aber noch ein wenig unsicher, ob ich damit richtig liege, weil sie in dieser Konsequenz von Dir nicht formuliert wird. Hier mein Versuch, diese zu formulieren, danke für Rückmeldung, ob sie in der Spur Deiner Argumentation liegt oder driftet: Drifts im Sinne von Auslenkungsbahnen, die das Regelwerk verbiegen wenn nicht sogar verlassen, stellen unvermeidbare Praxis-Artefakte dar, die nicht als solche zu verteufeln sind. Vielmehr sollten sie sorgfältig beobachtet und zu gegebener Zeit analysiert werden, um [und hier kommt dasjenige, was ich vermute, aber in Deinen Zeilen nicht mit dieser Emphase lese] daraus neue Regeln zu formulieren. Denn Regeln sind die unabdingbare Basis des Organisationsmanagements. Also sind Drifts nur gut, wenn sie zum QM des Regelwerks beitragen, indem sie wieder zum Verschwinden gebracht wird (z.B. durch Optimieren des Regelwerks) und damit zunächst wieder ein drift-freies Funktionieren herstellen. Es lebe das Regelwerk und sein eingebautes Warnsystem: die Drift! Habe ich das so in Deinem Sinne verstanden? Ein interpretatives Gegenmodell wäre etwa, dass Du dazu aufrufst, dass eine Organisation mit ihren Drifts bewusst umgehen muss, weil einfach Drifts zum Leben – auch zum Leben einer Organisation – dazugehören: nichts ist halt perfekt auf dieser Welt. Jeder weißen Herde ihr schwarzes Schaf, jedem Regelwerk seine Drift(s), man sollte sie allerdings im Auge behalten, damit nichts Dramatisches daraus resultiert… Herzlich, Elena

  2. Guido Wolf

    Liebe Elena, vielen Dank für Deine Auseinandersetzung mit dem, was ich zu sagen versuche. In der Tat geht es mir darum, Drift anzuerkennen und den häufig anzutreffenden blinden Fleck zu überwinden (“so was haben wir bei uns nicht”). Tatsächlich lautet einer meiner Glaubenssätze, dass so etwas wie eine Drift überall stattfindet. Damit lande ich, wenn ich Dich recht verstehe, bei Deiner zweiten Interpretation. Zum anderen erzählt das, was sich – in Deinen Worten: – als Praxis-Artefakt etabliert manchmal, wie etwas besser gehen könnte (jedoch nicht immer, siehe Challenger-Katastrophe). Aus einer solchen produktiven Wende lässt sich ein Verbesserungsimpuls gewinnen: Entweder etwas wird neu gefasst, dann hat die Drift etwas verbessert, es wurde gleichsam mit der Drift gearbeitet; oder die Praxis wird zurück auf den erforderlichen Soll-Zustand geführt, dann wird gegen die Drift gearbeitet. Beide Fälle verbessern etwas. So komme ich wiederum bei Deiner ersten Deutung an. Was mich am Ende darauf bringt, dass sich Deine beiden Alternativen aus meiner Sicht gar nicht widersprechen. Aber sie geben mir Gelegenheit, meine Aussageabsicht nachzuschärfen: grazie.

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Dr. Guido Wolf,
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