Aus Fehlern lernen: „Fuckup Night“_#77

von | 19/01/2020 | 2 Kommentare

Rund 150 Menschen sind im Saal, als Jens Feuerbach, der eigentlich anders heißt, über einen riesengroßen Flop spricht, den er selbst verursacht hat. Jens ist der zweite Sprecher auf einer sogenannten „Fuckup Night“, in der es darum geht, über persönlich verursachtes Scheitern – im Englischen etwas drastisch als „fuckup“ bezeichnet – zu berichten und aufzuzeigen, was daraus zu lernen ist. Erfunden im Jahr 2012 in Mexico-City, finden Fuckup Nights mittlerweile weltweit in über 300 Städten aus rund 80 Ländern statt. Schon sind erste Unternehmen auf das Format aufmerksam geworden, denn mit der Fuckup Night lässt sich einem alten Thema neuer Schwung verleihen: der Weiterentwicklung der Fehlerkultur.

In unserer Gesellschaft und auch in den meisten Unternehmen sind Fehler, erst recht aber großflächiges Scheitern kein Thema, mit dem man sich gern in Verbindung bringen lässt: Fehler und Scheitern sind geradezu tabuisiert. Wenn derlei passiert, wird meistens versucht, die Angelegenheit möglichst unter Verschluss zu halten. Wem das nicht (mehr) möglich ist, versucht nicht selten, die eigene Verantwortung herunterzureden, vielleicht auch andere zu beschuldigen. Denn sobald wir selbst aus dem Schneider sind, hört das Tabu auch schon wieder auf. Das Scheitern der anderen ist ein großartiges Thema für jedwede Art des Lästerns und der Empörung. Verwiesen sei auf die durchaus voyeuristische Berichterstattung der Zeitungen mit den großen Buchstaben über gescheiterte Promis. Beispiele: der ehemalige Bundesverteidigungsminister zu Karl-Theodor zu Guttenberg; die Schauspielerin Jenny Elvers-Elbertzhagen; der frühere Bundespräsident Christian Wulff; der in Bestzeiten als exzellenter Top-Manager gehandelte Thomas Middelhoff. Ich bin sicher, dass Ihnen weitere Beispiele auch aus Ihrer eigenen Organisation einfallen. Gern kommentieren wir Scheitern und delektieren uns am tiefen Fall der (vermeintlich) „großen Tiere“ – aber wehe, wir sind selbst verantwortlich. Dann werden wir ziemlich schnell ziemlich leise.

Offene Fehlerkultur fördert Initiative, Agilität und Gründergeist

Mit diesem Umgang mit Scheitern, der nichts anderes als ein Symptom für die weitflächig verklemmte Art der Fehlerkultur ist, verschließen wir uns vor den Potentialen, die jedes Scheitern, jeder Fehler bietet: Es sind Potentiale, aus denen sich für die Zukunft lernen lässt. Ich habe in einem früheren Blog-Post über meinen Besuch im Silicon Valley und die dort herrschende Startup-Kultur berichtet (siehe hier). Ein wesentliches Merkmal ist der Umgang mit Scheitern: Wer in Kalifornien ein Startup-Projekt an die Wand gefahren hat und mit einem neuen Versuch bei einer Bank zwecks Kredit vorspricht, erhält einen solchen – und zwar zu besseren Konditionen. Denn die Bank weiß, dass dieser Gründer einige Fehler nicht mehr machen wird, die er beim ersten Versuch beging. Wie würde wohl eine deutsche Bank bei identischer Gemengelage reagieren?

Neue Zeiten, neue Einstellungen: Seit einigen Jahren wird allerorten eine schnelle und flexible, vielerorts als „agil“ kategorisierte Organisation eingefordert. Angesichts der sich immer schneller ändernden Rahmenbedingungen kann es nicht mehr durchgängig gelingen, jede Entscheidung durch umfangreiche Bewertungs- und Genehmigungsschleifen zu schicken. Damit steigt jedoch das Fehlerrisiko. Nicht von ungefähr wird postuliert, dass es einer Veränderung im „Mindset“ bedarf, indem Fehler, wenn sie denn passieren, offen besprochen werden können, um daraus zu lernen. „Schnell scheitern“ lautet daher ein Imperativ, der mir seit einiger Zeit zunehmend häufig begegnet.

Mancher Forschungs- und Entwicklungsbereich reibt sich verwundert die Augen, denn seit jeher ist es selbstverständliche Praxis, innovative technische Lösungen im Experiment bzw. im kleinen (Produktions-) Maßstab zu überprüfen. Fehler, die in frühen Phasen identifiziert werden, erzeugen noch keine hohen Kosten und Personenschäden sind ausgeschlossen. Aber bisher wurde diese Einstellung noch nicht zum leitenden, durchgängig etablierten Prinzip in der Gesamtorganisation: Fehler sind verboten und wenn sie trotzdem passieren, dann wird der Schuldige gesucht und bestraft.

Immer wieder aufsteh‘n

Bis zu jenem Tag im Sommer, an dem alles passierte, war Jens Feuerbach noch nie nennenswert gescheitert. Doch dann war es so weit: Im Alter von gerade mal 27 Jahren hatte er ohne irgendwelche Vorerfahrungen in einer mittleren, im Norden Deutschlands gelegenen Großstadt ein großes Musikfestival auf die Beine gestellt. Mehr als 5.000 Besucher kamen, viel mehr als gedacht. Die Stimmung war toll und die Musik großartig. Was sich als riesengroßer Erfolg anließ, entwickelte sich jedoch nach etwa 2 Stunden zur Katastrophe, denn es gab für alle Besucher lediglich 10 Dixieklos und nur 2 Getränkestände. Die einen waren nach kurzer Zeit übervoll (man verzeihe mir diese Bemerkung, die jedoch den berichteten Tatsachen entspricht), die anderen ganz schnell leer.

Feuerbach spricht in bewegten Worten auf der Fuckup Night. „Über mich brach ein Shitstorm herein und ich habe 2 Tage im Bett verbracht. Dann stand ich auf, habe das Musikfestival ein zweites Mal veranstaltet – und es wurde ein gigantischer Erfolg.“ Sein persönlicher Bericht endet mit dem, was er daraus gelernt hat: Verlasse Dich nicht blauäugig auf Deine Partner und achte auf Dein eigenes Bauchgefühl. Denn sein vorgeblich mit Gastronomieerfahrung ausgestatteter Partner hatte bis zu diesem Event überwiegend Festivals getränkelogistisch betreut, die von jungen Menschen frequentiert wurden. Die aber versorgen sich gern mit selbst mitgebrachten Getränken (und erledigen das Entsorgungsproblem zuweilen eher unkonventionell; jetzt aber ist Schluss mit degoutanten Bemerkungen). Nach der Katastrophe im ersten Anlauf wusste Feuerbach es nun besser. Obendrein vermochte er beim zweiten Versuch einen erheblichen Zusatzgewinn über den Getränkeverkauf zu generieren.

Jens Feuerbach ist nicht der einzige Sprecher, der öffentlich und vor ziemlich vielen Menschen, die er noch nie gesehen hat, auf der Fuckup Night seine Erfahrungen teilt. Für das Publikum sind diese persönlichen Erfahrungsberichte eine großartige Lerngelegenheit, denn die Fehler, die andere zum Scheitern brachten, braucht man selbst nicht mehr zu begehen. Genau in diese Richtung weist die Motivation der Veranstalter von Fuckup Nights: Dazu beizutragen, dass aus Fehlern gelernt werden kann, und das Scheitern zu enttabuisieren. Wenn Sie mich als alten Qualitäter fragen: Das ist exakt das, was mit „fortlaufender Verbesserung“ als einem der zentralen Anliegen des Qualitätsmanagements gemeint ist.

“Sometimes you win. Sometimes you learn” (Homepage der Fuckup Nights Berlin)

Nun ist es keineswegs so, als wären Fehler jederzeit und allerorten begrüßenswert. Bremsbeläge aus Serienfertigung, Medikamente, Nahrungsmittel, ärztliche Eingriffe, Trinkwasserentnahme, Flugzeugstarts und unzählige andere alltäglich genutzte oder an uns praktizierte Vorgänge bzw. Objekte müssen fehlerfrei funktionieren. Anderenfalls bricht so etwas wie das Grundvertrauen zusammen, das uns handlungsfähig macht und eine moderne Gesellschaft wie die unsere stabil erhält.

Es ist genau anders herum: Niemand verfolgt Scheitern als primäres Ziel. Wenn aber Fehler passieren, dann müssen diese möglichst schnell identifiziert, offen kommuniziert und sofort behoben werden, um (noch größeren) Schaden zu vermeiden. Ist die Kuh vom Eis, kommt die Zeit der Reflexion. Spätestens jetzt bietet sich die Chance zu lernen: Woran lag es? Was hatte man übersehen, wo stand was bzw. wer im Weg? Fuckup Nights und daraus abgeleitete, auf die Unternehmenswirklichkeit zugeschnittene Formate sind großartige Möglichkeiten, um offen und vertrauensvoll über Fehler, Misslingen und Scheitern zu sprechen. Nur so entsteht eine Fehlerkultur, die Grundlage für exzellente Qualität sein kann. Was gibt es Besseres?

2 Kommentare

  1. Christoph Scheele

    Danke für deine tollen Anregungen. Man müsste im Grunde ja viel früher, in der Schule, anfangen, eine Fehlerkultur zu etablieren. Da ist noch viel zu tun. Auf der anderen Seite – wie viel Persönlichkeit entwickelt sich gerade in der Auseinandersetzung mit den etablierten, oft verkrusteten Strukturen. Ein weites Feld!

  2. Guido Wolf

    Lieber Christoph, vielen Dank für Dein Feedback. Lustigerweise habe ich am vergangenen Wochenende in meinem Blockseminar mit Studentinnen und Studenten exakt die Frage diskutiert, ob eine Fuckup Night sich für Schülerinnen und Schüler in den letzten Schuljahren eignet, beispielsweise mit Fokus auf Studien- bzw. Ausbildungsabbrüche. Die Essenz der Diskussion war: Ja, ist geeignet, aber die Sprecher müssen passend ausgewählt sein. Wir können ja mal darüber sprechen, wenn Du Interesse hast.

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Dr. Guido Wolf,
Kommunikationsforscher

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