„Wolle die Wandlung“_#44

von | 13/03/2016 | 3 Kommentare

Über die Sinne zum Sinn

Eine tiefgreifende Veränderung der Unternehmenskultur: So definiert sich oftmals das Ziel von Change-Projekten. Der Erfolg? Naja. Durch die Bank zeigt sich, dass eine nachhaltig wirksame Veränderung der Unternehmenskultur einer Veränderung der persönlichen Haltung bedarf. Leicht gesagt: Welche erwachsene Person ändert mal eben ihre fundamentalen Ansichten, ihre Prinzipien und Werte? Und doch lässt sich der Wandel nicht von der eigenen Person fernhalten, nach dem Motto: Mag sich ruhig alles ändern, für mich bleibt alles beim Alten. Die Notwendigkeit persönlicher Veränderungsbereitschaft verschärft sich nochmals in Zeiten der digitalen Transformation. Denn selbst tiefgreifende Veränderung ist heutzutage nicht mehr Episode, die sich aussitzen ließe und bald wieder vorbei ist. Change ist Dauerzustand. Das bedeutet den Verlust von Vertrautheit, Sicherheit und Stabilität und das ist für keinen Menschen leicht. Wie lässt sich der dennoch notwendige Wandel in der persönlichen Haltung unterstützen? Die notorischen Kommunikationskampagnen, ob mit oder ohne Social Media, bieten zumeist lediglich mehr vom selben. Müde winkt die Mannschaft ab: „Hatten wir doch alles schon.“ Neues braucht Anderes.

Abenteuerliche Wege ins Change-Abenteuer

Für einen wirklich fundamentalen Wandel in der persönlichen Haltung braucht es einen Impuls, der sich signifikant abhebt vom üblichen Instrumentarium. Schon seit Jahren setzen Unternehmen deshalb auf ungewöhnliche Wege, die sich bei verschiedenen kulturellen Genres bedienen. Beispiele sind das Business-Theater, das mit den Möglichkeiten eines theatralischen Zugangs auf tief verankerte  Glaubenssätze aufmerksam machen kann. Ebenso sind musikalische Interventionen anzutreffen wie etwa Drum Circles. Hier wird sprichwörtlich auf die Pauke gehauen, es geht darum, im Takt (bzw. „in-takt“) zu sein, um gemeinsam einen Rhythmus und ein Tempo zu finden. Selbst Techniken der bildenden Kunst lassen sich nutzen wie etwa der Einsatz von Collagen. Vielleicht ließen sich diese Zugänge als „Kunst“ klassifizieren, aber das mag etwas vermessen klingen. Wie auch immer bezeichnet: Wir konnten mit solchen Methoden in manchen Projekten gute Erfolge erzielen.

Die Idee ist, das Neue auf eine neue Art zu beginnen, um tief verankerte persönliche Haltungen zu erreichen. Selbstverständlich lassen sich Menschen am Ende nur über Argumente und Diskussion überzeugen. Aber „nur“ über die Sache erreichen wir die Menschen nicht in ihren persönlichen Einstellungen und Haltungen: Der Weg führt über die Sinne zum Sinn! Genau hierin liegt die Chance für Change.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Widerstand kann sehr schnell ziemlich groß werden. Gerade Menschen, die sich ohnehin schwer tun mit Veränderungen, wehren neue Zugänge ab. Schnell versteckt man sich hinter rationalisierenden Vorwänden, etwa wenn die gewählte Methode bereits verunglimpft wird, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist („sind wir im Kindergarten gelandet?“). Insofern ist sehr genau abzuwägen, welche Intervention zum angestrebten Veränderungsvorhaben passt – und dabei ausreichend irritiert.

Lyrik – mehr Irritation geht kaum

Man frage eine beliebige Person danach, was sie am meisten in der Schule gehasst hat. Auf den vorderen Plätzen findet sich stets „Gedichte lernen und aufsagen“ (oftmals neben der Mathematik). Das geht Ihnen genauso? Wunderbar, genau deshalb lade ich Sie zu einem Experiment ein, das Sie direkt als Test für Ihre eigene Veränderungsbereitschaft nutzen können. Ich möchte Ihnen ein Gedicht – eigentlich: ein Sonett – von Rainer Maria Rilke vorstellen, in dem es um nichts anderes als um Veränderung geht. Hier ist es:

„Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.

Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau’s?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte.
Wehe – : abwesender Hammer holt aus!

Wer sich als Quelle ergießt, den kennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.

Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne
will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind.“

(Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus 2. Teil, Sonette XXII; geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop, Chateau de Muzot im Februar 1922; aus: Rainer Maria Rilke <200314>, Die Gedichte, S. 702f., Frankfurt a.M.: Insel Verlag. Den Hinweis auf dieses Sonett verdanke ich meinem Freund Ully, der es mir während einer Autofahrt durch Norditalien vorlas, als wir ein wenig auf den Spuren Rilkes unterwegs waren > hier lang zum Wikipediabeitrag über Rainer Maria Rilke).

Noch dabei? Gut. Ich finde, dass dieses wunderbare Gedicht geradezu radikal die Bereitschaft zu Veränderung und Change (bei Rilke: „Wandlung“) feiert. Rilke geht direkt in die Vollen, wenn er mit dem Imperativ beginnt, dass man die Wandlung zu wollen habe. Selbst ein sich veränderndes Ding, das doch „Wandlung“ genug sein sollte, reicht ihm nicht, setzt er es doch schon in der zweiten Zeile den Flammen aus. Und so geht es weiter, wenn er etwa den wendenden Punkt begrüßt, das Bleiben mit dem Erstarrten gleichsetzt oder mahnend darauf hinweist, dass alles Harte bald einem Härtesten ausgesetzt sein werde: Schon hole ein (noch) abwesender Hammer aus.

Aber Rilke belässt es nicht bei mahnenden Hinweisen. Der Figur des Sonetts folgend wechselt er nach den beiden vierzeiligen Strophen die Perspektive, die er in den beiden Terzetten entwickelt (siehe abermals Wikipedia; im Sonnet folgen auf 2 „Quartette“ 2 „Terzette“, eigentlich mit festgelegter Silbenzahl pro Zeile ausgeführt; darüber setzt sich Rilke jedoch hinweg). Jenen, die sich der Wandlung nicht verschließen, winken Verzücktheit, Heiterkeit, Staunen und Glück. Sein Gegenentwurf spricht von Offenheit als Voraussetzung für Erkenntnis („wer sich als Quelle ergießt, den kennt die Erkennung“), vom heiter Geschaffenen, das „mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt“.

Es ist doch unglaublich, dass Rainer Maria Rilke vor fast 100 Jahren eine Lyrik gelang, die sich derart passend auf die Veränderungsvorhaben in den Unternehmen und Organisationen von heute anwenden lässt. Es ist nicht nur die begrüßende Haltung: Rilke will sogar die Veränderung verändern. Und auch sein mahnender Ruf passt auf aktuelle Beispiele: Wie oft wird Veränderung propagiert, wird Change durchkonzipiert, pilotiert und ausgerollt; aber das Konzept selbst ist fix und wird gegen etwaige Anpassungen oder Veränderungsbedarfe abgeschirmt.

Wolle die Lyrik

Ich will mich gar nicht weiter an der Interpretation versuchen. Lässt man sich auf die Sprache ein, wird schnell deutlich, worauf Rilke hinaus will. Doch neben dem Sinn ist es die Sinnlichkeit, aus der eine eigene Schönheit entsteht – wenn man es zulässt. Probieren Sie es aus! Ich empfehle, Rilkes Text laut zu sprechen. Lesen Sie ihn nicht nur einmal und deklamieren Sie ihn, womöglich sogar etwas pathetisch (vermutlich ist es einfacher, wenn niemand zuhört). Lauschen Sie dem Klang der Wörter, spüren Sie dem Rhythmus der Sprache nach. Wenn wir uns überwin­den und etwas erproben, das wir ursprünglich nicht mochten, dann kann das einen persönlichen Veränderungs­prozess einleiten. Genau das ist es, was wir brauchen. Auch wenn es ziemlich lange her sein dürfte, dass Sie sich mit einem Gedicht auseinandergesetzt haben: Es lohnt sich.

3 Kommentare

  1. Cristina Osterhoff

    “Doch neben dem Sinn ist es die Sinnlichkeit, aus der eine eigene Schönheit entsteht – wenn man es zulässt.”… der schönste Satz, den ich seit langem gelesen habe.

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Dr. Guido Wolf,
Kommunikationsforscher

Unternehmensberater – Trainer – Moderator – Coach

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