„Offenheit“: das grenzenloses Versprechen? /#27

von | 15/10/2014 | 2 Kommentare

Leitbild, Leitlinien, Vision, Vision-Mission-Statement, Unternehmensphilosophie, Selbstverständnis, Prinzipien, Policy, Werte und so fort: Es gibt viele Bezeichnungen und Kategorien für Texte, in denen Unternehmen ihre grundsätzliche Ausrichtung zum Ausdruck bringen. Aber ein idealisierter Anspruch findet sich nahezu immer, in jeder Verlautbarung: der eines „offenen Dialogs“, häufig auch formuliert als „Offenheit im Umgang“. Dass dieser Anspruch jedoch in konkreter, alltäglich erfahrbarer Realität oft nicht eingelöst wird, erfährt, wer Mitarbeiter nach ihrer Einschätzung zur tatsächlichen Offenheit befragt. „Gerade wenn es darauf ankommt, erfährt man hier praktisch überhaupt nichts“, lautet die resignierte Diagnose. Dabei wäre durchaus Verständnis gegeben, dass die Unternehmensführung nicht vollkommen offen kommuniziert; aber: „Warum formulieren die dann überhaupt diesen Anspruch?“ Gute Frage!

Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bestreite nicht, dass es Offenheit im Umgang miteinander braucht. Was ich angreife, ist die Proklamation von Offenheit ohne irgendeine Einschränkung: Das ist einfach nicht zu halten. Und es ist nach meiner Auffassung ungünstig, etwas zu versprechen, was weder möglich noch sinnvoll für ein Unternehmen ist. Man denke nur an technische, organisatorische oder strategische Unternehmensentwicklungen, die in einem frühen Stadium schon aus Wettbewerbsgründen geheim bleiben müssen: Jeder hat Verständnis dafür, dass hier gerade nicht uneingeschränkt offen kommuniziert werden kann. Warum dann aber erst grenzenlose Offenheit versprechen?

Der „Offenheits-Topos“: Kurzer ideengeschichtlicher Abriss

Es ist bemerkenswert, dass mit dem absolut und ohne Einschränkung formulierten Anspruch von Offenheit – ich werde fortan vom „Offenheits-Topos“ sprechen – eine Vorstellung aufgegriffen wird, die mit der Hippiezeit und ihren Auslegern bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts ihre Blüte hatte. In den entsprechenden Subkulturen der Kommunen, Sponti- und Alternativ-Szenen, aber auch in einigen Sekten war es (und ist es teilweise bis heute) üblich, von jedem Zugehörigen totale Offenheit zu fordern. „Du bist nicht offen zu uns“ galt als Vorwurf, der schwer wog und zu Auseinandersetzungen führen konnte, an deren Ende der Ausschluss des Beschuldigten aus der Gemeinschaft stand. Gegenüber dem Abweichler schlug die ansonsten reklamierte Toleranz sekundenschnell um in eine rigide Haltung, die ihrerseits alles andere als offen war.

Aus dieser Perspektive ist es beinahe kurios, dass es der Offenheits-Topos bis in die wichtigsten Verlautbarungen von Wirtschaftsunternehmen geschafft hat, die wahrlich nicht unter Alternativ-, K-Gruppen- oder Sektenverdacht stehen. Wie also kommt’s?

Allerorten unter den top-3-Problemen: mangelnde Offenheit und Transparenz

Ich wage die Hypothese, dass die uneingeschränkte Behauptung des Offenheits-Topos häufig aus einer Überreaktion auf eine durch zu wenig Offenheit entstandene Situation formuliert wird. Als Beleg diene ein Szenario, dem ich nicht nur einmal begegnet bin:

  • Ein Unternehmen gerät in eine Krise – und alle merken es. Aber die Führung schweigt, kein Sterbenswörtchen ist zu hören, nicht einmal die offensichtlich vorliegenden Probleme werden angesprochen.
  • In solchen Fällen ersetzen die Mitarbeiter mangelnde Informationen kurzerhand durch Vermutungen, die ausufern und bald als Gerücht weitergegeben werden. Es beginnt mit Achselzucken: „Die sagen uns mal wieder nichts!“ und endet mit der (vermeintlichen) Gewissheit: „Wir werden alle entlassen!“
  • Wer einmal dieser Auffassung ist, findet rasch Bestätigung – und sei es durch nachgerade absurde Indizien („Der Chef guckt mich nicht mehr an, wenn er grüßt“).
  • Solch zum Teil absurde Phantasien sind die Quittung für nicht ausreichende Offenheit. Sind aber die Gerüchte einmal in der Welt, so gelingt es nur noch mit großer Mühe, die Dinge wieder ins Lot zu bringen: Das Vertrauen in die Führung ist (vorerst) erschüttert. Gerade in einer Krisensituation sorgt der Vertrauensverlust für zusätzliche Komplikationen und Spannungen, die niemand braucht. Mit mehr Offenheit und professionalisierter Kommunikation wäre diese zusätzliche Problematik gar nicht erst entstanden.
  • Das bleibt natürlich nicht verborgen. Und so wird spätestens nach überstandener Krise Offenheit zu einem Anspruch mit universeller Gültigkeit erhoben – eine Überreaktion!

Offenheit ja – aber wann und wieviel?

Es kann festgehalten werden: Grundsätzlich braucht es Offenheit im Umgang miteinander. Und obwohl es ein Widerspruch in sich ist, bin ich der Auffassung, dass das Versprechen einer totalen Offenheit keinen Platz in einem Unternehmen haben sollte. Weil jedoch in einem Leitbild eine Aussage wie „Wir sind im Umgang miteinander so offen wie möglich“ fehl am Platze ist, ist sorgfältig zu überlegen, ob dieser Topos überhaupt in die grundsätzliche Positionierung des Unternehmens gehört.

Mein Vorschlag lautet, Offenheit als ein Gebot zu verstehen, das für jede Situation neu konkretisiert werden muss. Zur Orientierung rege ich diese Prüffragen an:

  • Welche Informationen sind für den Anderen jetzt wichtig, weil er voraussichtlich sein Handeln darauf einstellen würde?
  • Welche Informationen lassen sich weitergeben, ohne dass ein direktes oder indirektes Risiko für den größeren Kontext (das Team; das Projekt; das Unternehmen) entsteht?
  • Worüber darf (noch) nicht gesprochen werden? Aus welchen Gründen? Lassen sich diese Gründe kommunizieren, um Verständnis dafür zu schaffen, dass noch nicht vollumfänglich informiert werden kann?
  • Was ist ohnehin bekannt bzw. wird bald ohne weiteres Dazutun bekannt? (z.B. durch Presseberichte; durch unternehmensinterne Kommunikation über Reports, Protokolle etc.)?
  • Welche Erwartungen bestehen hinsichtlich des Umgangs mit der neuen Information? (z.B. Diskretion/ Verschwiegenheit)

Mir ist klar, dass ich mit diesen Hinweisen über einen schmalen Pfad balanciere. Denn im Kern lässt sich meine Empfehlung so zusammenfassen:

  • Üben Sie so viel Offenheit aus wie irgend möglich;
  • insbesondere gegenüber denen, die unmittelbar betroffen sind;
  • unter Wahrung von Respekt und Achtung der Privatsphäre – auch der eigenen;
  • mit Loyalität gegenüber dem größeren Kontext (gemeint: das Unternehmen/ der Standort/ der Bereich/ das Projekt etc.);
  • und versetzen Sie sich in die Lage des/ der Anderen: Was wäre Ihnen an dessen/ deren Stelle wichtig zu wissen, um weiterhin Vertrauen zu haben?

Mit dieser Differenzierung bleibt Offenheit weiterhin ein herausfordernder Anspruch an die eigene Person. Aber immerhin unterbleibt das nicht einlösbare Pauschalversprechen absoluter Offenheit.

2 Kommentare

  1. rechtsberatung

    Kompetenter Artikel Ich stolperte ueber Ihren Weblog und wollte
    nur sagen, das ich mit Freude auf Ihrem Weblog
    rumstoebere. Auf jedweden Fall moechte ich Ihren Feed abonnieren und hoffe Sie verfassen bis anhin mehr so intressante Posts.
    😉

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Dr. Guido Wolf,
Kommunikationsforscher

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