Für einen Hammer ist jedes Problem ein Nagel /#12

von | 15/07/2013 | 0 Kommentare

Wenn geschlossene Besprechungskreise zu esoterischen Zirkeln werden

Geschlossene Besprechungskreise in Unternehmen sind esoterische Zirkel? Diese Gleichsetzung dürfte bereits den Tatbestand einer mittelschweren Beleidigung erfüllen: Selbstverständlich treffen sich Menschen in homogenen Gruppen zu Meetings. Vorstandssitzung, Geschäftsführerbesprechung, Bereichsleiterrunde, Projekt-Meeting, Techniker-Zirkel oder Change-Management-Task Force: lauter geschlossene Besprechungskreise. Das war immer so, das ist sinnvoll und das soll auch so bleiben. Was daran soll esoterisch sein?

„Esoterisch“ steht im ursprünglichen Wortsinn für „innerlich“, „nur für Eingeweihte <verständlich>“ (z.B. Kluge, Etymologisches Wörterbuch). Die heutzutage üblichen Zuschreibungen wie „spirituell“, „versponnen“ oder „Geheimlehre“ (für Esoterik) kamen erst später auf. „Esoterische Zirkel“ sind im eigentlichen Sinn also zu verstehen als Zusammenkünfte Eingeweihter in einem definierten und geschlossenen Kreis.

So verstanden und auf Unternehmen angewandt, begegnet man durchaus einer ganzen Reihe von esoterischen Zirkeln – eben in Form der geschlossenen Besprechungskreise. Regelmäßig oder  situationsbedingt kommt stets derselbe Teilnehmerkreis zusammen, der sich aus Organisationsstruktur und Verantwortungsbereichen ergibt. Fallweise können weitere Teilnehmer geladen werden, wozu es jedoch besonderer Anlässe bedarf: Prinzipiell bleibt man unter sich. Das hat durchaus seinen Nutzen, birgt aber auch Risiken. Nicht selten etablieren geschlossene Kreise nach einer gewissen Zeit einheitliche – manchmal auch stereotypische – Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata. Das vollzieht sich in der Regel unbemerkt. Resultat dieser kollektiv verankerten Bewertungsschemata sind Risiken wie Fehleinschätzung, voreilige Entscheidung und Irrweg.

Ein esoterischer Zirkel auf dem Holzweg: Das Beispiel des Ludwik Fleck

Der polnisch-jüdische Arzt und Erkenntnistheoretiker Ludwik Fleck wurde 1944 ins Hygiene-Institut der Waffen-SS deportiert, das am Konzentrationslager Buchenwald stationiert war. Dort versuchte man, ein Impfserum gegen das Fleckfieber (nicht nach ihm benannt) zu entwickeln. Fleck selbst war der Gruppe nicht zugeordnet, konnte ihre Arbeit jedoch aus direkter Nähe beobachten. Als einziger Fachmann für Mikrobiologie erkannte er sofort, dass die unter deutscher Führung arbeitende Forschergruppe ohne tiefere Sachkenntnis und ohne fachlichen Austausch mit anerkannten Experten operierte. Dabei stand die Gruppe unter hohem Ergebnisdruck. Immerhin tobte der Krieg und das Fleckfieber forderte zusätzliche Opfer.

Die Forschergruppe verfolgte verschiedene Lösungswege, die allesamt in die Irre führten. Schließlich kam der Moment der vermeintlichen Lösung: Unter dem weiter zugenommenen Druck, endlich Ergebnisse zu liefern, fand man schließlich Partikel im Blut, die man (fälschlich) für den Fleckfiebererreger hielt. Im Moment der vermeintlichen Entdeckung war es die soziale Situation von gegenseitiger Bestärkung und dem Vertrauen auf den Leiter des Kollektivs, die den Ausschlag gab. Externer Druck, Konsenszwang, Konformitätsdruck (dem Gruppenführer widerspricht man nicht) und der spontan geäußerte Beifall jener Gruppenmitglieder, die als anerkannte Nichtfachleute den „gesunden Menschenverstand“ (Zitat Fleck) vertraten: Die kollektive Täuschung war geboren, stabilisierte sich durch weitere Experimente (deren widersprechende Ergebnisse postwendend umgedeutet wurden) und hielt sich sogar, als der fachliche Austausch über den geschlossenen Kreis hinaus ging. Doch selbst in der endlich hinzugezogenen Fachwelt kamen bis zum Ende des Krieges keine gravierenden Zweifel auf: Offenbar wirkte sich selbst bei ausgewiesenen Experten die der Forschergruppe zu Unrecht unterstellte Kompetenz aus.

Geschlossene Gruppe und ihr Denkstil als Risiko …

Fleck, der mit seiner Frau und seinem Sohn das KZ überlebte,  hatte sich bereits vor dem Krieg mit erkenntnistheoretischen Fragestellungen befasst. Eine zentrale Erkenntnis war für ihn, dass geschlossene „Denkkollektive“ – wir können reformulieren: geschlossene Gruppen oder eben esoterische Zirkel – einen eigenen Denkstil entwickeln. Dieser Denkstil führt zu sich selbst bestätigenden Erkenntnissen, die als Resultate von gruppen- und situationsspezifischen Gegebenheiten entstehen. Das Denkkollektiv vermag dies jedoch nicht zu erkennen, erst recht dann nicht, wenn es auf sich allein gestellt und isoliert arbeitet. Ein wie auch immer bedingter Konsensdruck lässt die Gruppe zu in sich stimmigen Ergebnissen gelangen, die als gültig aufrechterhalten bleiben, selbst wenn sie sich als unzutreffend erweisen. Verbunden mit einer parallel entstehenden „Beharrungstendenz“ werden die den Ergebnissen entgegenstehenden Beobachtungen, Tatsachen und Daten entweder negiert, verschwiegen oder (wenn es gar nicht mehr anders geht) umgedeutet. Entscheidend ist dabei, dass so etwas wie ein über die Gruppe hinausgehender, wahrhaftiger Austausch nicht stattfindet: Das Denkkollektiv ist zum Opfer des eigenen, verabsolutierten Denkstils geworden. Genau das war es, was Fleck an jener Forschergruppe hatte beobachten können.

Ein Hinweis zu meiner Aussageabsicht: Vergleiche der hier angestellten Art bergen ein erhebliches Risiko für Missverständnisse. Deshalb sei ausdrücklich betont, dass ich in keiner Weise andeuten möchte, dass geschlossene Kreise in Unternehmen irgendeine inhaltliche Verbindung zu einer nationalsozialistisch geführten Forschergruppe haben. Aber zugespitzte – und empirisch belegte – Beispiele lassen Merkmale deutlicher hervortreten. Zudem halte ich es für legitim, wenn ein in der Erkenntnistheorie geführter Diskurs mit Bezug auf Flecks Arbeiten aufgegriffen wird, um neue Sichtweisen auf unternehmensinterne Kommunikation zu gewinnen. Die für mich bündigste Reflexion über die im KZ Buchenwald beobachtete Forschergruppe legt Fleck in seinem Aufsatz „Wissenschaftstheoretische Probleme“ vor, auf Deutsch erstmals veröffentlicht im 2011 erschienenen Sammelband: Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen, S. 369-389 (Suhrkamp-Verlag, Berlin).

… und was das für die Organisation heißen kann: Scheuklappen

Und genau das meine ich in mancher Organisation feststellen zu können: kollektiv verankerte Bewertungsmuster und eine ausgeprägte Beharrungstendenz. Deutlich unkomplizierter formulierte es ein Mitarbeiter eines großen Konzerns mir gegenüber, kopfschüttelnd eine strategische Grundsatzentscheidung kommentierend: „Der Vorstand kreist nur noch um sich selbst und will keine Gegenargumente hören. Die sind Opfer ihrer Scheuklappen geworden.“

Sie widersprechen? Dafür habe ich Verständnis. Klar definierte und geschlossene Teilnehmerkreise für Besprechungen sind in den allermeisten Organisationen derart selbstverständlich, dass ihr Hinterfragen irritieren kann. Konzentriert und ungestört, im kleinen Kreis und unter sich: So kommt man nun mal zusammen, wenn es um etwas geht. Als Argumente werden angeführt:

  • Die gemeinsame (und geschlossene) Besprechung dient der Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben.
  • Man kennt sich, vertraut einander und weiß, was man voneinander zu halten hat.
  • Die Informationsbasis ist bei allen Teilnehmern identisch.
  • Andere Teilnehmer halten auf, weil sie längst abgehakte Diskussionen wieder aufleben lassen oder unpassende Fragen aufwerfen. Das kostet alles nur Zeit.
  • Zudem sei kaum gesichert, dass vertrauliche Informationen nicht weitergegeben würden.

Ganz klar: Diese und manch weitere Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, auch wenn ich hier und da leise Zweifel anmelde. Etwa, wenn gegenseitiges Vertrauen oder eine gemeinsame Sicht auf die gemeinsamen Aufgaben vorausgesetzt werden: Das treffe ich zuweilen anders an.

Denkstil wird zur Denkfalle: kollektiv verankerte Bewertungsschemata

Ein „esoterischer Zirkel“ mit festgefahrenen Bewertungsmustern ist insbesondere dann ein Risiko, wenn grundsätzlich neue Fragen zu beantworten sind. Neue Wettbewerber, gravierende Einflüsse durch Internet und Social Media auf das eigene Geschäftsmodell, eine neue strategische Ausrichtung, die neue Produktlinie, der Eintritt in neue Märkte, das angepeilte Change Management-Projekt: Gerade bei großen Themen wäre es fatal, kurz entschlossen auf die vermeintlich bewährten Lösungsmuster vergangener Fragestellungen zurückzugreifen. Motto: „Das hat bisher immer bestens funktioniert.“

Kann ja sein. Aber geht es auch dieses Mal wirklich um dasselbe? Mit dem Sprachbild meiner Überschrift: Wird womöglich die anstehende Frage zum Nagel umgedeutet, um den guten alten Lösungshammer ansetzen zu können? Immer dann, wenn die zusammenkommende Gruppe im genannten Sinn zum esoterischen Zirkel geworden ist und ihren spezifischen Denk- und Erkenntnisstil ausgeprägt hat, ist die Denkfalle aufgestellt.

Umso wichtiger, dass mit einer offenen (Denk-) Haltung operiert wird und nicht einfach alte Lösungsansätze zur Anwendung kommen. Gerade bei substantiell neuen Fragestellungen ist es sinnvoll, andere Sichtweisen, Denkstile und Perspektiven in den Bewertungs- und Entscheidungsprozess zu integrieren.

Den Blick weiten: Anregungen für Ihre Praxis

Wer den esoterischen Zirkel zumindest partiell öffnen will, kann auf durchaus erprobte Vorgehensweisen zurückgreifen. Selbstverständlich hat jede Methode die Unternehmensinteressen und -ge­heimnisse zu wahren: Verschwiegenheit, Diskretion und Vertraulichkeit sind sicherzustellen. Bekannte Instrumente wie Betriebsversammlungen, offene Diskussionsforen (ggf. mit externen Referenten) oder spezielle Tagungsformate wie Kundenforen oder Lieferantentage sind gute Möglichkeiten, um eingefahrene Denkstile zu überwinden. Hier drei weitere Möglichkeiten für die Praxis, mit denen eine (dosierte) Öffnung geschlossener Regelbesprechungs-Kreise gelingen kann:

  • „Freier Stuhl“
    In Regelbesprechungen mit festgelegtem Teilnehmerkreis wird ein zusätzlicher Platz vorgesehen, auf dem Mitarbeiter an der Besprechung teilnehmen können. Gegebenenfalls werden besonders heikle Themen zunächst im kleinen Kreis besprochen, bevor der Mitarbeiter hinzugebeten wird. Die Mitarbeiter können sich entweder um die Teilnahme bewerben oder sie werden durch ein Votum (z.B. per interner Social Media-Abstimmung) von den Kollegen ausgewählt.
  • „Agenda-Impuls“
    Regelmäßig wird den Mitarbeitern die Möglichkeit angeboten, Themen oder Fragestellungen auf die Agenda der Vorstands- oder Geschäftsführerrunde zu setzen. Besonders geeignet sind unternehmensinterne Social-Media-Plattformen, wie sie zunehmend in größeren Unternehmen und Konzernen eingeführt werden. So können Mitarbeiter ihre Fragen, Themen oder Anregungen auf eine Art Pinnwand setzen. Per elektronischem Votum entscheiden alle Mitarbeiter über deren Priorisierung. Das Ergebnis der Besprechung wird kommuniziert.
  • „Dia-Lab“
    Dieses Format bringt in einem offenen Dialog die unmittelbar Beteiligten mit Personen zusammen, die aus vollkommen anderen, auf den ersten Blick exotisch anmutenden Kontexten stammen. Ob Unternehmensinterne aus anderen Geschäftsbereichen des gemeinsamen Konzerns oder  Unternehmensexterne: Die „Exoten“ werden eingeladen, ihre Sichtweisen und Hinweise zur betreffenden Fragestellung zu äußern. Besonders geeignet ist das Format für Produktinnovationen und Marketingkonzepte. Vergleichbar mit der Arbeit unter experimentellen Bedingungen eines Laboratoriums können vorherrschende Denkstile überprüft, durch alternative Sichtweisen angereichert oder auch überwunden werden.

Mein Vorschlag lautet: Prüfen Sie regelmäßig, ob ein geschlossener Kreis für die anstehenden Fragestellungen wirklich taugt. Sollten Sie feststellen, dass immer wieder dieselben Antworten gegeben werden, dann ist es an der Zeit, den esoterischen Zirkel zumindest zeitweise zu öffnen.

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